Anarchie des Geschmacks
Staatlich verordnete Ausgangsbeschränkung und eingeschränkte Freiheiten sind oft erdrückend. Der Kampf nach Freiheit beginnt für Kolumnist Benjamin dabei schon im Inneren – der Küche.
Mit einer Prise Salz die Zwiebeln langsam in Butter andünsten, dann vier Esslöffel Mehl hinzufügen. Das Mehl drei Minuten bräunen lassen und anschließend mit Milch oder einer Bouillon der Wahl aufgießen. Zum Schluss Butter in der Sauce zerlassen, und einem ist die perfekte Liaison des Geschmacks geglückt. Et voilà! Eine Sauce Soubise nach Julia Childs, Simone Becks und Louisette Bertholles Werk „Mastering The Art of French Cooking“. Es ist das Manifest der französischen Küche, der Haute Cuisine.
Vom richtigen Kochgeschirr bis hin zur Perfektion des Schnitts von Charlotten und Wurzelgemüse findet sich alles in einem Buch. Dabei kommt kein Regelwerk der Rezepturen ohne ein Heer gehorsamer Köch*innen aus, die jedem Zwiebelhäutchen die Treue zur Konformität schwören. So wahr mir der Gott „de Gusto“ helfe, jeden Schnitt und jede Prise zur Vollendung zu bringen, Amen. Obrigkeitshörigkeit ist der Erfolg zur perfekten Küche. In Quarantäne bleibt oft viel Zeit zum Einkaufen und Kochen, so auch bei mir. Neue Rezepte und Lebensmittel finden den Weg in meine Küche, doch am Ende bleibt alles gleich und wird dem Korsett meines „Geschmacks“ unterworfen. Doch weshalb ich das esse, was ich esse und warum wilde Kombinationen aus Bananen und Fisch wohl kein Genuss für mich wären, trieb mich um. Alles eine Frage eines individuellen Geschmacks? Eher nicht. Vielmehr war er Teil meiner Erziehung, Kultur oder Herkunft. Egal wie man es auch nennen mag, ist das, was mir und meinen Mitmenschen schmeckt, ein kollektives Regelwerk, dem wir uns ergeben. Dass zurzeit keine Nudeln und Tomatensaucen mehr zu finden sind, ist dabei nur die Symptomatik dessen. Die Angst davor, nicht essen zu können, was schmeckt, ist groß in diesem Land. Anarchie ist keine Option und Geschmäcker so unterschiedlich wie die Gurken im Supermarktregal.
Das, was uns schmeckt, dachte ich, sei immer eine höchst individuelle Entscheidung. „Du bist, was du isst“, hieß es schließlich immer. Umso erschreckender ist, wie gleich wir am Ende dann doch sind, wenn das geschmacklose Heer der geschmacklichen Regelkonformität hinterhertrottet. Selbst bei der Reihenfolge und der Zusammenstellung unserer Speisen hat sich das absolute Regime durchgesetzt. Morgens, mittags, abends – kalt, warm, kalt – süß, herzhaft, herzhaft. Die mitteleuropäische Triade des Hauptgerichts erscheint dabei besonders festgefahren: ein Drittel Kohlenhydrate in Form von Getreide oder Kartoffeln, ein Drittel Gemüse und ein Drittel Fleisch, Fisch oder Ei. Die klassische mitteleuropäische Küche eben. Wieso man nicht etwa morgens seinen Bedarf an Kohlenhydraten deckt, mittags das Gemüse und Obst isst und abends Eiweiß, weiß keiner. Wieso wir Nahrung in Herzhaftes oder Süßes einteilen, Süßes nach dem Salzigen zu uns nehmen, Fettiges mit dem Frischen kombinieren und die Zwiebel nicht im Dessert und Vanille nicht am Braten zu finden ist, sind die ungeschriebenen Gesetze des „Geschmacks“. Kaum vorstellbar sind dagegen süße Bohnen oder Früchte mit Salz, zumal das in anderen Regionen kein Vergehen wäre. Zwar kann man sich den Regeln eines universalen kulturbedingten Geschmacks widersetzen, doch wird einem spätestens beim Einkauf klar, dass das, was wir essen und vor allem, wie wir es essen, keine individuellen Entscheidungen sind. Prähistorische Menschen aßen voller Liebe Dinge, die verdorben waren, was uns heute wohl kaum noch im Traum einfiele.
So sehr wir es wohl auch probierten, würden verdorbene Lebensmittel schnell die ersten Abwehrreaktionen des Körpers hervorrufen. Im Gegensatz zur kasachischen Ernährung, in der verdorbene Stutenmilch noch immer eine wichtige Rolle spielt. Da man in den langen heißen Sommermonaten Milch nur schwer lagern kann, hat man sich schnell an den Geschmack von „Kumys“ gewöhnt. Alles also eine Frage der Gewohnheit und viel mehr noch der kulturellen Konditionierung, und Geschmack weniger eine individuelle als eine kulturelle Entscheidung. Außer bei Koriander natürlich.
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