Social Distancing im Fünfbettzimmer
Die Coronakrise verschärft die mangelhaften Zustände in Flüchtlingsunterkünften. Forderungen mehrerer Initiativen zum Schutz Geflüchteter wurden laut. Ein Blick auf die Lage in Sachsen und Leipzig.
Fehlende Seife, Toilettenpapier, Desinfektionsmittel und zu fünft auf einem Zimmer schlafen – so beschrieben Bewohner*innen der Asylbewerber*innenunterkunft in Dölzig die Zustände dort Ende März. Kurze Zeit später gab es den ersten Corona-Verdachtsfall, der sich jedoch nicht bestätigte. Während in Leipzig längst die Kontaktsperre herrschte, machten insgesamt 71 Unterzeichner*innen des Heims ihrer Wut in einem offenen Brief Luft. Dieser war an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Hilfsorganisation Malteser, die die Einrichtung leitet, gerichtet. Sie seien verängstigt und machten sich Sorgen um die älteren und kranken Menschen unter ihnen.
Die Bilder aus der Unterkunft kursierten in den Medien. Gegenüber dem Leipziger Kreuzer rechtfertigte ein Sprecher der Landesdirektion Sachsen die fehlenden Desinfektionsspender in den Sanitärräumen mit „Sicherheitsgründen“. Dass selbst die Spender auf der Krankenstation leer waren, erklärte der Sprecher damit, dass auch die Bewohner*innen der Unterkunft sich „wie die übrige Bevölkerung“ einen Vorrat anlegten.
„Sammelunterkünfte waren schon immer eine menschenunwürdige Idee. Nun zeigt sich: Sie sind eine katastrophale Idee“, äußert sich Mark Gärtner, Pressesprecher des Sächsischen Flüchtlingsrats (SFR), in einer Pressemitteilung Mitte März. Darin forderte der SFR das sächsische Innenministerium unter anderem dazu auf, den Zugang zum Gesundheitssystem für alle zu schaffen. Der SFR appelliert zudem an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, alle Entscheidungen über Asylanträge zu pausieren und Ausweispapiere unbürokratisch zu verlängern. Gärtner schließt: „Seuchenprävention und Lager gehen nicht zusammen.“ Einen ersten Erfolg konnte der SFR mit seinen Forderungen bereits erzielen. Das Staatsministerium beschloss, alle Abschiebungen aus Sachsen zu stoppen und die Abschiebehaft zu beenden.
Dölzig ist keineswegs ein Einzelfall. Etwa zur gleichen Zeit saßen über 500 Menschen in einer Erstaufnahmeeinrichtung im thüringischen Suhl in Quarantäne, nachdem ein Bewohner positiv auf das Coronavirus getestet worden war. Auch in der Erstaufnahmeeinrichtung in der Max-Liebermann-Straße in Leipzig gab es zwei Fälle, was zu einem sofortigen Aufnahmestopp und zur Isolierung der Infizierten führte. Zuvor wurden bereits präventive Maßnahmen gegen die Ausbreitung eingerichtet.
Wie Ingolf Ulrich, Pressesprecher der Landesdirektion Sachsen, auf Anfrage bekannt gibt, seien derzeit 489 der 700 Plätze belegt. In Bereichen, in denen sich Warteschlangen bilden können, gebe es jetzt Markierungen einzuhaltender Abstände. Zudem seien der Abstand zwischen Tischen im Speisesaal vergrößert und die Essenszeiten entzerrt worden. „Den Bewohnern steht während der Pandemie auch die Möglichkeit offen, ihre Speisen aus dem Speisesaal mit- und auf ihren Zimmern einzunehmen“, ergänzt Ulrich. Für den Fall einer isolierten Unterbringung bestünden Separationsmöglichkeiten in allen Aufnahmeeinrichtungen. Neuzugänge von Asylbewerber*innen werden zunächst zentral in der neu eingerichteten, gesonderten Aufnahmeeinrichtung Mockau für mindestens 14 Tage untergebracht, dort auf das Virus getestet, registriert und gesundheitlich untersucht.
Diesen Maßnahmenkatalog, der für alle sächsischen Unterkünfte gilt, wertete das Dresdner Verwaltungsgericht Mitte April als ungenügend. Beispielsweise findet die gemeinschaftliche Nutzung der Sanitäranlagen, die ein besonders hohes Ansteckungsrisiko birgt, keine Erwähnung. Mehrere Menschen, unter anderem eine schwangere Frau, hatten zuvor Anträge zur Verlegung in kleinere Unterkünfte gestellt, die von den jeweiligen Verwaltungsgerichten bewilligt wurden. Einen bahnbrechenden Beschluss verkündete das Leipziger Verwaltungsgericht Ende April. Das Gericht teilte mit, dass die Abstandsregeln der sächsischen Corona-Schutzverordnung auch in Aufnahmeeinrichtungen gelten. Der Antragsteller war der Südafrikaner Francois, der nun vorerst in Zwickau wohnt und sich zuvor in Dölzig ein sechs Quadratmeter großes Zimmer mit einem anderen Bewohner teilte. „Sie behandeln uns hier wie Menschen zweiter Klasse“, äußerte er sich noch Mitte April in einem Artikel der Taz.
In den Gemeinschaftsunterkünften der Stadt sieht das Sozialamt Leipzig vorerst keinen Grund zur Sorge. Diese bilden abgeschlossene Wohneinheiten, die für eine Familie oder eine kleine Wohngemeinschaft von derzeit maximal zwei Personen zur Verfügung gestellt werden. Außerdem habe es seit Beginn der Pandemie keine Neuzuweisungen mehr gegeben.
„Die Forderung, Sammelunterkünfte abzuschaffen und geflüchtete Menschen dezentral in den Kommunen unterzubringen, ist nicht erst durch die Coronakrise entstanden“, heißt es in einem offenen Brief des Infobusses Leipzig, einer Beratungsinitiative für Geflüchtete. Massenunterkünfte würden nicht nur die Integration behindern, sie führten auch zu psychischen Belastungen oder verschlimmerten bereits vorhandene. „Jetzt ist es durch das Coronavirus zu einem dieser Worst-Case-Szenarien gekommen.“
Titelfoto: flickr / Tim Wagner
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