• Menü
  • Wissenschaft
  • Interview
  • „In Zusammenhalt ist immer auch eine Art von Abgrenzung eingeschrieben“

    Die Coronakrise stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf die Probe. Matthias Middell spricht im Interview über die Geschichte und Vielfalt von Zusammenhalt.

    Matthias Middell ist Professor am Global and European Studies Institute der Universität Leipzig. Außerdem koordiniert er den Leipziger Standort des Forschungsinsituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt, das bundesweit tätig ist. Mit luhze-Redakteurin Lisa Bullerdiek sprach er über die aktuellen Herausforderungen durch die Coronakrise und den Aufbau des Instituts.

    luhze: Mit der Coronakrise wird gesellschaftlicher Zusammenhalt auf eine ganz neue Weise erprobt. Welche Tendenzen in Bezug auf gesellschaftlichen Zusammenhalt zeigen sich hier?

    Middell: Wir erleben einerseits, dass die Notwendigkeit von gesellschaftlichem Zusammenhalt stark betont wird. Auf der anderen Seite zeichnet sich ab, wie verschiedene Rahmungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, etwa die Europäische Union, scheinbar in den Hintergrund treten, während der Nationalstaat wieder wichtiger zu werden scheint. Auch geschlossene Grenzen sind dafür ein Zeichen. Trotzdem ist klar, dass ein Impfstoff kurzfristig nur gefunden werden kann, wenn Wissenschaftler international sehr eng kooperieren. Wir sind konfrontiert mit einer widersprüchlichen Betonung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und seiner Gefährdung. Es gibt nicht einen einzigen Effekt der Krise auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern sehr viele unterschiedliche. Zusammenhalt existiert nicht einfach, sondern er wird gerade in so einer Krise auf dramatische Weise neu verhandelt. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler*innen ist es zunächst, diese Neuverhandlung zu beobachten und zu erklären. Als Historiker kann ich Ihnen allerdings nicht sagen, wie er morgen verhandelt wird.

    Was genau ist das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ)?

    Das Institut geht auf eine Initiative des Bundestages im Jahr 2015 zurück. Damals wuchsen die Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und seine interdisziplinäre Erforschung sollte einen festen Platz bekommen. Das BMBF hat eine entsprechende Ausschreibung veröffentlicht und aus den zahlreichen Vorschlägen elf ausgewählt, die nun als über die Bundesrepublik verstreute Standorte ein gemeinsames Institut bilden. Koordiniert wird dieses komplexe wissenschaftliche Netzwerk an den Standorten Bremen, Frankfurt und Leipzig. In Leipzig liegt unser Fokus auf der Varianz im Verständnis und der Ausprägung gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Weltregionen.

    Aus was für Disziplinen kommen die Forscher*innen?

    Das ist das Interessante an unserem Institut. Es sind eben nicht nur Soziologen und Politikwissenschaftler beschäftigt, sondern auch Geografen, Kulturwissenschaftler, Historiker, Medienwissenschaftler und viele andere. Dieses soll eine möglichst breit angelegte Diskussion ermöglichen.

    Was bringt dieses groß angelegte und interdisziplinäre Projekt?

    Der Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist relativ neu, aber Fragen von Solidarität und Integration werden natürlich schon lange diskutiert. Die Frage ist, warum dieser Begriff jetzt aufkommt und ob er vielleicht das Produkt von gesellschaftlichen Spannungen ist, die wir mit diesem Begriff einzufangen versuchen. Dies schließt aber eben auch an Diskussionen darüber an, wie Gesellschaften zusammenhalten können, die weit in die Geschichte zurückreichen. Im Vergleich mit ähnlich spannungsreichen Situationen vor 70 oder 100 Jahren, in denen es auch schon um den gesellschaftlichen Zusammenhalt ging, können wir unsere gegenwärtige Situation besser verstehen. Uns beschäftigen auch Fragen nach Diskriminierung als Gegenstück von gesellschaftlichem Zusammenhalt, nach der Rolle von Nationalismen und Regionalismen für den Zusammenhalt? Das muss man mit einbeziehen, um unsere Gegenwart zu verstehen.

    Kann gesellschaftlicher Zusammenhalt auch national aufgefasst werden?

    Es gibt viele Formen, wie man gesellschaftlichen Zusammenhalt definieren kann, und viele von ihnen sind implizit oder explizit ausschließend. Man definiert, mit wem man zusammenhalten möchte und mit wem nicht und das kann natürlich im schlimmsten Fall offen diskriminierend sein. Dies reicht bis zu der aktuellen Frage, für wen Beatmungsgeräte und Intensivbetten bereitgestellt werden. In Deutschland werden erfreulicherweise auch schwer erkrankte Italiener und Franzosen versorgt, aber dies geschieht letztlich nur unter der eng interpretierten Voraussetzung, dass erst einmal für Versorgung im eigenen Land gesorgt ist. Und zusätzlich zu diesem nationalen Verständnis von Zusammenhalt haben wir sogar gesehen, wie sich Mecklenburg-Vorpommern innerhalb Deutschlands für einige Wochen strikt abgegrenzt hat. In Zusammenhalt ist also immer eine Art von Abgrenzung eingeschrieben, aber die Kriterien und Instrumente der Abgrenzung verändern sich. Darüber sollte man allerdings nicht vergessen, dass Zusammenhalt auch viele Akte grenzüberschreitender Hilfe und Solidarität einschließt.

    Wie hat sich gesellschaftlicher Zusammenhalt historisch entwickelt?

    Wir erleben seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Herausbildung von Weltmärkten. Das Interessante ist, dass mit diesen globalen Verflechtungen auch die Nationalstaaten entstanden sind. Das hat den Eindruck hinterlassen, dass die zentrale, wenn nicht die natürliche Ebene des gesellschaftlichen Zusammenhalts der Nationalstaat ist. Das war schon damals eine Täuschung. Viele Dinge, wie etwa die Vergabe von Radiofrequenzen oder der weltweite Transport von Briefen und Postkarten, ließen sich nicht allein innerhalb eines Nationalstaats regeln. Übrigens spielten in diesem Zusammenhang auch schon im 19. Jahrhundert Erfahrungen mit Epidemien eine große Rolle. Für große Teile der Welt trifft die Vorstellung, das natürliche Umfeld von gesellschaftlichem Zusammenhalt sei der Nationalstaat, nur in sehr geringem Maße zu. Das ist eher eine westliche Vorstellung. Sie gerät spätestens seit den 1990er Jahren massiv unter Druck, denn Wertschöpfungsketten wurden ins Ausland verlagert, Waren und Menschen werden in immer größerer Zahl über Grenzen transportiert, Kapital bewegt sich in atemberaubender Geschwindigkeit rund um den Erdball. Allerdings blieb dieser Prozess nicht krisenfrei. Zunächst hat die Finanzkrise 2008/10 die Verwundbarkeit der miteinander verflochtenen Banksysteme gezeigt und die Migrationskrise 2015 hat das Ungenügen der bestehenden Regulierungen für die Mobilität von Menschen sichtbar gemacht. Da liegt es nahe zu glauben, dass ältere Konzeptionen des Zusammenhalts besser geeignet seien. Das führt zu den Spannungen, die wir gerade erleben: Die einen sehen abgeschottete Nationalstaaten als Grundlage für gesellschaftliche Zusammenhalt, die anderen verweisen darauf, dass sich die vielen internationalen Verflechtungen nicht mehr zurückdrehen lassen. Das spaltet gegenwärtig die Gesellschaften und deswegen gibt es auch ein großes Interesse an unserem Institut und seinem Gegenstand. Wir werden eine neue Balance finden müssen. Das Spiel steht unentschieden, aber keiner weiß, wie die zweite Halbzeit verlaufen wird.

    Wie unterscheiden sich die Vorstellungen von Zusammenhalt weltweit?

    Die Idee, Zusammenhalt sei zuallererst eine nationale Sache, ist historisch sehr stark westeuropäisch geprägt. Sie hat sich aber weltweit als attraktiv erwiesen, auch wenn sie dafür Verbindungen mit anderen Mustern eingeht. So etwa im chinesischen Fall, wo Nationalismus, imperiale Vergangenheit und ethnisch fundierte Gemeinschaft eine seltsame Symbiose eingehen. Heute wird diese Position von der Kommunistischen Partei vertreten, aber sie greift auf Ideen zurück, die sehr viel älter sind als die kommunistische Programmatik. In Afrika dagegen spielt die Betonung regional begrenzter ethnischer Gruppierungen eine wichtige Rolle und dazu kommen kontinentale Zusammenhaltsvorstellungen im panafrikanischen Raum, die sich auch in Lateinamerika beobachten lassen. Die Vielfalt ist atemberaubend und die wenigen angerissenen Beispiele zeigen, dass sich Zusammenhalt auf ganz verschiedene Konstruktionen – also Nation, Ethnie oder auch einen Kontinent – beziehen kann. Zusammenhalt kann politisch ganz unterschiedlich verwaltet werden. Geschieht dies gewaltsam, wie in vielen Fällen, in denen Minderheiten in einen Zusammenhalt gezwungen werden, gegen den sie ihre Besonderheiten verteidigen. Oder geschieht dies als diskursive Auseinandersetzung nach demokratischen Spielregeln und mit Respekt für einen fortschreitenden Individualismus. Die Spielarten der Arrangements sind außerordentlich vielfältig, und es erscheint vermessen, wenn jemand behauptet, er habe den Schlüssel zu definitiven Lösung dieses Problems in der Hand.

    Foto: Institut für gesellschaftlichen Zusammenhalt

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    „Unsere Gesellschaft und unsere Demokratie brauchen Menschen mit Empathie“

    Alexander Yendell ist Mitglied im Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig. luhze-Redakteurin Pauline Reinhardt sprach mit ihm über Extremismusursachen.

    Interview Wissenschaft | 11. November 2019

    Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Primatenforschung

    Das Projekt Many Primates verspricht vielversprechende Erkenntnisse in der Erforschung von Menschenaffen.

    Wissenschaft | 28. Mai 2020