Das Privileg, Ostdeutscher zu sein
Kolumnist Jonas wollte darüber schreiben, warum er sich als ostdeutsch bezeichnet. Dann begann er, sich zu fragen, ob er das nur tut, um auch mal der Diskriminierte sein zu können.
Eigentlich wollte ich heute über Ostdeutschland schreiben. Darüber, was es für mich bedeutet, ostdeutsch zu sein, wie ich zu diesem „Ostbewusstsein“ gelangt bin, wie die Journalistin Valerie Schönian es nennt. In dieser Kolumne wäre es um meine typisch und untypisch ostdeutsche Familie gegangen, um wirtschaftliche Unterschiede und darum, dass Ostdeutsche im öffentlichen Diskurs immer noch stark unterrepräsentiert sind, dass die deutsche Öffentlichkeit eigentlich eine westdeutsche ist. Eine Öffentlichkeit, in die Ostdeutsche nur reinhören dürfen – ein bisschen wie damals, als mein Vater mit dem Moped auf den Datzeberg in Neubrandenburg fuhr, um Westradio zu hören.
Jetzt findet in Deutschland eine wichtige, überfällige Rassismusdebatte statt. Und ich beginne mit dem Text zu fremdeln, der schon wochenlang auf meiner Festplatte schlummert. Denn so richtig es ist, dass weiße Ostdeutsche wirtschaftlich benachteiligt sind, so nachrangig ist das doch im Vergleich mit struktureller Gewalt gegenüber Schwarzen Menschen. Wenn ich darüber schreibe, dass nur eine einzige weiße Ostdeutsche Teil der Bundesregierung ist, wirkt das vermessen, weil nur Weiße Deutschland regieren. Sich darüber zu beschweren, dass Ostdeutschland in den überregionalen Medien nur ein Thema ist, wenn mal wieder 25 Prozent AfD gewählt haben, ist fast lächerlich. Schließlich ist Rassismus nur ein Thema, wenn Hunderttausende auf die Straßen gehen und Bilder von Millionenprotesten aus den USA in der Tagesschau laufen.
Würde ich jetzt nur über meine Ostbewusstseinswerdung schreiben, müsste ich mir zurecht den Vorwurf gefallen lassen, den gestraften Weißen, den Jammerossi, zu einem Zeitpunkt in den Mittelpunkt zu stellen, wo gerade die Weißen dringend zu jammern aufhören sollten. Keine weiße Cottbusserin wurde je bei der Wohnungssuche in Dortmund abgelehnt, weil ihr Geburtsort in der Selbstauskunft stand. Kein weißer Bautzener war je Opfer von Gewalt, weil er aus Ostdeutschland stammt.
Denn wenn ich über Ostdeutschland schreibe, muss ich auch über ostdeutsche Rassist*innen schreiben. Rassistische Gewalt ist in Ostdeutschland häufiger als in Westdeutschland, der rassistischen AfD geben hier ein Viertel der Wähler*innen ihre Stimme. „Baseballschlägerjahre“ ist eine schier endlose Sammlung von Erfahrungen mit naziverseuchten Städten und Dörfern in Ostdeutschland. Wir alle haben Bilder der brennenden Erstaufnahmeeinrichtungen gesehen. Offensichtlich gibt es in Ostdeutschland ein massives Rassismusproblem.
Und dann taucht da eine Studie wie diese auf: Ostdeutsche sagen von sich, sie seien ähnlich benachteiligt wie Muslim*innen. Ich will an dieser Stelle anti-muslimischen Rassismus und anti-schwarzen Rassismus nicht vermischen. Es geht mir darum, dass weiße Ostdeutsche sich selbst als benachteiligt betrachten, aber auch die Benachteiligung anderer Gruppen sehen.
Deswegen möchte ich eine rhetorische Frage stellen, mit der sich all jene Weißen, die sich als ostdeutsch identifizieren, ebenfalls auseinandersetzen sollten: Bin ich Ostdeutscher, weil ich als weißer Mann eine Identität brauche, in der auch ich in die Opferrolle, in die des Benachteiligten und Marginalisierten schlüpfen kann? Wenn ja, ist das kein Identitätsmerkmal, sondern eine Ausrede, Benachteiligung nicht zu reflektieren. Wenn nein: Wie kann ich diese spezifische Erfahrung von Benachteiligung dazu nutzen, Gerechtigkeit für alle Benachteiligten, nicht nur weiße Ostdeutsche, zu erreichen? Nur gegen die Benachteiligung weißer Ostdeutscher vorzugehen ist falsch, wenn es auf Kosten der Emanzipationsbestrebungen Schwarzer Menschen geschieht und nicht im Rahmen eines gleichberechtigten Strebens nach einer gerechten Gesellschaft. Aus der Forderung nach Repräsentation darf keine Konkurrenz untereinander entstehen. Weiße Ostdeutsche können wissen, wie sich Unterrepräsentation und wirtschaftliche Benachteiligung anfühlen, selbst wenn sie bei weitem nicht in dem Maße auftritt wie bei Schwarzen Menschen. Dieses Wissen müssen sie, müssen wir, nutzen, anstatt uns in unsere bequeme Kugel des „aber die armen Ostdeutschen!“ zurückzuziehen.
Foto: Ben Kaden
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