Stadtgeschichten: ehemalige Kammgarnspinnerei Stöhr & Co. KG
In unserer Rubrik Stadtgeschichten stellen wir jede Ausgabe einen besonderen Ort in Leipzig vor. Dieses Mal geht es um das Fabrikgelände auf der Zschocherschen Straße.
Wie ein lückenhaftes Gebiss ragen die roten Backsteinbauten, die einmal belebte Industriehallen waren, in den Abendhimmel des Leipziger Westens. Die blinden Fenster und abgebrochenen Schlote zeugen nur noch entfernt von dem regen Treiben, das hier einst geherrscht haben muss. Doch während manche dieser Hallen längst Territorium für Sprayer und Abenteurer geworden sind und die ersten Bäume ihre Wurzeln in die Regenrinnen und morschen Dachbalken graben, haben andere stets eine neue Aufgabe gefunden und werden heute noch genutzt. Eines dieser Gebäude ist der rote Klinkerbau in der Zschocherschen Straße 79E, dass aufgrund seiner Lage zwischen Boulderhalle, Fitnessstudio und Einkaufshalle bestimmt schon dem einen oder anderen aufgefallen sein wird.
Seit seiner Fertigstellung 1891 zieren die wuchtigen Mauern und hohen Fenster des im Stil des Späthistorismus errichteten Bauwerks die Zschochersche Straße. Es bildete das Zentrum des Stammwerks der Kammgarnspinnerei Stöhr & Co. KG. Das im gleichen Jahr in Leipzig eingemeindete Plagwitz war blühender Industriestandort und auch die Kammgarnspinnerei entwickelte sich zu einem global agierenden Unternehmen mit etwa 3000 Beschäftigten und einer Tochterfirma in New York. Kammgarn wird im Gegensatz zu normalem Garn nicht aus Baumwolle, sondern aus Wolle gefertigt und zur Textilproduktion eingesetzt.
Doch der Erfolg währte nicht ewig. Als das Werk im Zuge des zweiten Weltkrieges für die Rüstungsproduktion genutzt und 1944 durch einen schweren Bombentreffer zu einem Drittel zerstört wurde, waren auch die goldenen Zeiten Plagwitz‘ als Industriestandort vorüber. Erdgeschoss und erstes Obergeschoss des Gebäudes brannten komplett aus. Das durch den Treffer vom Rest des Hauses abgetrennte Treppenhaus musste noch vor Kriegsende gesprengt werden.
Zwar wurde Anfang der 50er Jahre der Wiederaufbau beschlossen, doch die Kammgarnspinnerei Stöhr sollte nie wieder an ihren Produktionsort zurückkehren – im April 1948 erfolgte deren Enteignung und Überführung ins Volkseigentum. Ab diesem Zeitpunkt produzierte die Volkseigenen Betriebe Mitteldeutsche Kammgarnspinnerei in der Zschocherschen Straße 79e.
Ende der 70er Jahre erfolgte die Zentralisierung der Buntgarnwerke in der Nonnenstraße. Zum ersten Mal seit fast 80 Jahren ratterten keine Spinnereimaschinen mehr in den fünf Etagen hinter den kühlen Backsteinmauern. Stattdessen wurde der Platz zur Warenlagerung eines Leipziger Kaufhauses genutzt, 1990 erfolgte ein Umbau zu Geschäftsflächen. Ein Lebensmittelmarkt fand im Erdgeschoss Einzug, ein Möbelmarkt besetzte das erste Obergeschoss.
Seitdem gaben sich verschiedenste Mieter die Klinke in die Hand. Über Jaques Weindepot gelangte das Gebäude schließlich in den Besitz des Zentralantiquariats Leipzig, das sich gemeinsam mit dem Möbelfundus #1 die Verkaufsflächen teilte.
Heute sucht man Antiquitätengeschäft und Möbelhaus hier vergeblich, das Haus hat erneut den Besitzer gewechselt. Folgt man der aktuellen Entwicklung der Stadt, so sollte es kaum überraschen, wenn demnächst schicke Lofts hinter der altehrwürdigen Fassade funkeln.
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