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    Der israelische Film „Children“ erzählt eindrucksvoll von Tod, Gewalt und den Kindern, die damit leben müssen. Er feierte am Montag Premiere auf dem Dok Leipzig.

    „Das Haus wird einstürzen, wir werden sterben und niemand wird uns begraben“, sagt ein Sechsjähriger. „Nein, deine Mama oder dein Papa kommen, um nach uns zu sehen“, antwortet eine Sechsjährige. Und dann: „Komm, lass uns weiter spielen.“ Sie schnipst eine Murmel auf die andere Seite des Bettes. Es gibt kaum etwas Fürchterlicheres, als Kinder über den Tod sprechen zu hören. Was aber, wenn der Tod und die Angst ständig präsent sind?

    Der israelische Film „Children“ kommt ohne Erzähler aus. Er spricht durch seine Protagonistinnen, die sechsjährige Dareen Al-Rajabi und die elfjährige Dima Al-Wawi, zwei palästinensische Kinder. Mit Dima beginnt der Film: Gerade wurde sie aus dem Gefängnis entlassen, ihre Eltern holen sie ab. Kameras umringen die Familie, „Wir können so nicht filmen“, sagt einer der Journalisten, als sie sich umarmen. Als sie Dima befragen, stachelt ihre Mutter sie an: „Erzähl, was sie dir angetan haben.“ Dima wurde auf dem Weg zu einer jüdischen Siedlung festgenommen. Auf einem Video sieht man sie gefesselt auf dem Boden liegen, sie sagt: „Ich kam, um Juden zu töten.“ Später erzählt sie, dass sie riesige Angst hatte und das deswegen behauptet hätte. „Wenn man gesteht, dürfen sie einem nichts tun.“

    Diese Szene stammt aus Dimas Kinderzimmer und zeigt die große Stärke dieses Films. Ada Ushpiz, israelische Journalistin und Regisseurin von „Children“, kommt den Familien so nahe wie nur möglich. Sie filmt pubertäre Streits zwischen Dima und ihrer Mutter. Sie folgt der elfjährigen Janna Jihad, die in Palästina umherfährt und Videologs von Vorfällen zwischen der israelischen Armee und Palästinenser*innen dreht. Sie begleitet die sechsjährige Dareen in die Schule. Hier werden die Widersprüche deutlich, die das Leben für die Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten prägen: Die Lehrerin, Sawsan Abu al Hawa, fragt die Klasse, was sie mit dem Wort „Nationalismus“ verbinden. „Palästina!“, rufen die Sechsjährigen geschlossen zurück. Und später wird sie davon erzählen, wie der Islam, das Christentum und das Judentum alle ihre Berechtigung haben. Dass es nur eines gebe, das zählt: die Furcht vor Gott.

    Hier offenbart sich ein Problem: Im Film sprechen alle Arabisch, es gibt keine Synchronisation. Und die Untertitel tappen oft in die Falle der übergenauen Übersetzung. Denn sicherlich ist „Furcht vor Gott“ wörtlich richtig übersetzt. Für deutsche Zuschauer*innen klingt das aber wie religiöser Fundamentalismus und nicht wie „Frömmigkeit“, wie es auch hätte übersetzt werden können. In Teilen des Films kann man, ohne Arabischkenntnisse, die zu Worte kommenden Palästinenser*innen deswegen radikaler wähnen als sie eigentlich sind.

    Abgesehen davon zeigt „Children“ ohne Überspitzung die Beziehung der palästinensischen Kinder zur israelischen Besatzung. Die kleine Dareen, wie sie um ihren großen Bruder Angst hat, der schon mehrmals von israelischen Patrouillen verhaftet wurde. Dima, die immer wieder auf ihre Haft angesprochen und ausgefragt wird. Dareens Freund, der davon erzählt, dass er sich die Juden weit weg wünscht. Und immer wieder Ausschnitte von Handyvideos, wie sie wohl fast täglich herumgeschickt werden, auf denen israelische Soldaten zu sehen sind, die Palästinenser drangsalieren, schlagen, beschießen.

    Der Film zeigt hervorragend die Widersprüchlichkeiten, mit denen palästinensische Kinder leben müssen. Eltern, die auf ein friedliches Zusammenleben mit den Israelis hoffen, aber sich dann auf der Straße mit Patrouillen anlegen. Klassisches Fangenspiel und gewaltvolle Handyvideos. Lehrer*innen, die den palästinensischen Nationalismus loben und Minuten später die Daseinsberechtigung Aller predigen. Wer nicht zu Wort kommt, sind Israelis. Sie bleiben ein ominöses „Die“, das bedrohliche Andere. Dies mag Absicht sein, um die Perspektive der Kinder zu verdeutlichen, die kaum Kontakt mit jüdischen und anderen nicht-arabischen Israelis haben. Zurück bleibt ein mulmiges Gefühl, als sei sehr selektiv ausgewählt worden, wessen Gewalt man zu sehen bekommt. Es lohnt sich dennoch, „Children“ zu schauen. Ebenso wie es nichts Fürchterlicheres gibt, als Kinder über Tod sprechen zu hören, gibt es nichts Eindrucksvolleres, um die Spirale der Gewalt in den besetzten Palästinensergebieten sichtbar zu machen.

    Ganz am Ende erzählt Dima dann wieder, sie sei zur Siedlung gegangen, um Juden zu töten. Dann habe sie erkannt, dass sie es nicht kann. „Ich kann keine Juden töten. Ich kann doch keiner Fliege was zuleide tun“, sagt sie. Die Elfjährige.

    „Children“ läuft am 29. Oktober um 15 Uhr in der Schaubühne Lindenfels und ist noch bis zum 10. November auf der Dok-Website streambar.

    Titelfoto: DOK-Leipzig 2020 / Children

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