Zurück spazieren
Zur Querdenker-Demo am Samstag versammelten sich etwa 20.000 Coronaleugner*innen in Leipzig. Ihr Ziel: die Friedliche Revolution von 1989 vollenden. Warum diese Narrative so gefährlich ist.
Leere Regale, Schlangen vor dem Supermarkt, nur noch das raue Toilettenpapier übrig: Beobachtungen wie diese weckten vor allem zu Beginn der Pandemie in Menschen ostdeutscher Herkunft Erinnerungen an den Alltag in der ehemaligen DDR. Dass solche vergleichenden Eindrücke mehr als harmlose Assoziationen sein können, zeigt sich in der ostdeutschen Szene der Coronaleugner*innen.
In viele Städten nahmen in den vergangenen Monaten sogenannte Spaziergänge explizit Bezug auf die Demonstrationen der Friedlichen Revolution. Die Spitze des Eisbergs ist die Querdenken-Demonstration am 7. November, die unter dem Titel „Die zweite Friedliche (R)Evolution“ steht. Im Mobilisierungsvideo werden abwechselnd Videoausschnitte von 1989 und den heutigen Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen gezeigt. Ob die Demonstration wie geplant stattfinden konnte, war zu Redaktionsschluss der Ausgabe am 29. Oktober noch nicht bekannt. In der Szene werden die Infektionsschutzmaßnahmen mit den autoritären Zwängen und der Überwachung in der DDR verglichen. Diejenigen, die den Vergleich bemühen, sehen sich selbst als eine Art Fortführung oder Renaissance der Friedlichen Revolution – darin entlädt sich eine Geschichte der widerständigen Ostdeutschen, die 1989 gesellschaftlichen Wandel brachten und nun wieder bereit stünden, um das System zu stürzen.
„Diese Vergleiche kommen nicht aus dem Nichts. In der neurechten Szene wurden schon vor Corona immer wieder Parallelen von der heutigen Zeit zur DDR gezogen. Dabei werden aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse komplett ausgeblendet“, sagt Greta Hartmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig und Mitglied im Forschungsverbund „Das umstrittene Erbe von 1989“. Auch die rechtspopulistische AfD warb bei den jüngsten Landtagswahlen mit Slogans wie „Vollende die Wende“ und „Wer-de Bürgerrechtler“. Laut Hartmann bieten die Corona-Schutzmaßnahmen durch ihre weitreichenden Einschnitte von staatlicher Seite einen Anhaltspunkt für das bereits verbreitete Erklärungsmuster der Elitenkritik.
Im Forschungsverbund „Das umstrittene Erbe von 1989“ untersucht Hartmann alltagsweltliche Demokratieverständnisse. „Unsere These ist, dass aus den Erfahrungen um 1989 heraus bestimmte Politikverständnisse entstanden.“ Die Konsequenz sei, dass bei ehemaligen DDR-Bürger*innen die Eindrücke und Verständnisse von damals tiefer liegen als aktuelle Bezüge, sie sind im Alltag verankert und mit eigenen Erfahrungen untermauert. Mit ihnen erklären sich die Menschen, wie gesellschaftlicher Wandel funktioniert und deuten politisches Geschehen. Welche Elemente dabei relevant sind, versucht das Team um Hartmann herauszufinden. In Bezug auf die DDR-Corona-Vergleiche sagt sie, dass man Menschen ihre Erfahrungen und Assoziationen nicht absprechen könne, es jedoch wichtig sei, diese richtig einzuordnen.
Dass nun auch Menschen aus anderen, nicht rechtsextremen Milieus die Vergleiche ziehen, hält Hartmann für gefährlich: „Damit schließt man sich einer rechten Erzählung an und macht sie gesellschaftlich breiter anschlussfähig.“
Hartmann sieht eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darin, die Vergleiche einzuordnen und zurückweisen zu können. „Solidarität spielte 1989 eine große Rolle. Die Menschen sind nicht nur für die eigene Freiheit auf die Straße gegangen, sondern auch für die der anderen“, betont Hartmann. In den Corona-Demos sehe sie diese Solidarität nicht.
Titelfoto: Querdenken
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.