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  • Von Regenschirmen und Rückkehr

    Auf der Thema-Seite unserer Novemberausgabe beschäftigten wir uns mit russischem Leben in Leipzig. Das russische Generalkonsulat am Leipziger Auwald ist dafür von großer historischer Bedeutung.

    Am Rande des Leipziger Auwalds, in der Turmgutstraße 1, steht ein großes, bauchiges rotes Backsteingebäude, gespickt mit vielen Erkern und kleinen Fenstern. Hier sitzt das russische Generalkonsulat – die älteste ausländische konsularische Vertretung in Leipzig. Obgleich es schon im 17. Jahrhundert erste diplomatische Beziehungen zwischen Sachsen und Russland gab, soll seine Errichtung im Jahr 1783 als Ausgangspunkt dieser Geschichte dienen.
    Die Zahl der dauerhaft in Sachsen ansässigen Russ*innen war zwischen 1790 und 1812 noch sehr gering. Der Erste war der Techniker und Erfinder Nikolaj Putjatin – er lebte in Dresden und erfand unter anderem einen Regenschirm mit kleinen Fenstern zur Wetterbeo­bach­tung. Diese Situation änderte sich drastisch nach der Völkerschlacht bei Leipzig 1813. Sachsen stand nach seiner Niederlage aufseiten Napoleons unter russischer Besatzung – nicht zum letzten Mal. Dadurch kamen Truppenkontingente von bis zu 64.000 Mann nach Sachsen. Herbert Schmidt, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Zentrums Sachsen, sagt: „Es gab anfangs eine bei­spiellose Begeist­erung für Russisches. Das lag schlicht daran, dass die Sachsen die Preußen mehr fürchteten als die Russen.“ Aus dieser Zeit, in der die Leipziger*innen weitgehend friedlich mit den Besatzern zusammenlebten, geht ein besonders kurioser Fakt hervor: Victor von Prendel, der in Tirol geboren war und sich zum russischen Offizier und Stadtkom­mandant hochgear­beitet hatte, wurde zum ersten Ehrenbürger der Stadt ernannt. Erst nach der Besatzung war eine gleichberechtigte russisch-orthodoxe Religions­ausübung möglich.
    Die erste Einwanderungswelle russischer Menschen nach Deutsch­­­­­­land erfolgte in den 1920er Jahren nach der Russischen Revolution, jedoch kamen kaum Menschen nach Leipzig.
    Während des Nationalsozialismus spielte Leipzig als bedeutender Rüstungs- und Wirt­schafts­standort im NS-System der Zwangs­­­­arbeit eine zentrale Rolle. Zwisch­en 1939 und 1945 wurden min­destens 60.000 Menschen ausge­beutet, unter ihnen viele sogenan­nte „Ostarbeiter“. Nach dem Zwei­ten Weltkrieg kehrten rund zwei Millionen Sowjetbürger*innen nicht in ihre Heimat zurück, sondern blieben in Deutschland. In der Wissenschaft spricht man von der zweiten Welle der Emigration.
    Die Auflösung der Sowjetunion 1991 stellte die innereuropäische Migration wieder her. Die beiden größten Gruppen, die nach Deutschland kamen, waren zum einen die Spätaussiedler*innen, die heute oft als „Russlanddeutsche“ bezeichnet werden, also Deutsche aus Russland. Ihre Ahn*innen gingen vor 200 Jahren auf Einladung von Katharina II. nach Russland, um zu arbeiten – weshalb ihre Nachfahr*innen auch oft ein 200 Jahre altes Deutsch sprachen. Zudem kamen viele sogenannte Kontingentflüchtlinge, die meisten von ihnen jüdische Menschen. Laut Herbert Schmidt habe diese Zuwanderung eine Renaissance des Judentums in Deutsch­land erst möglich gemacht. „Damals gab es keine Willkommenskultur wie 2015“, erin­nert er sich. Er und andere grün­deten 1994 das Deutsch-Russische Zentrum, um den Eingereisten bei der Integration zu helfen. „Es war sehr schwer für sie, weil sie mit Vorurteilen empfangen und ihre Bildungsabschlüsse hier meistens nicht anerkannt wurden“, sagt Schmidt.
    In Leipzig leben heute etwa 7.000 Bürger*innen mit russischer Einwanderungsgeschichte. Mit denen aus Nachfolge­staaten der ehemaligen Sowjetunion sind es fast 13.000 Menschen. Während der Verein in den Neunzigern noch Deutschkurse anbot, ist es heute oft andersherum: „Wir helfen vielen jungen Menschen dabei, die Sprache ihrer Familie zu lernen, da sie mit Deutsch aufgewachsen sind“, erzählt Schmidt.

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