„Bei Minus 20 Grad fühle ich mich am wohlsten“
Die Meteorologin Linda Ort hat mit luhze-Redakteur Niclas Stoffregen vor ihrer Reise in die Antarktis über Ängste, Aufgaben auf der Station und ihre Faszination für das Ewige Eis gesprochen.
Jedes Jahr überwintert eine kleine Gruppe Wissenschaftler*innen in der deutschen Antarktisstation Neumayer III. Die Meteorologin Linda Ort hat vor ein paar Monaten noch an der Universität Leipzig studiert, kurz vor Weihnachten ist sie mit einem zehnköpfigen Team aufgebrochen und bewohnt nun für 15 Monate die Station. Im Interview mit luhze-Redakteur Niclas Stoffregen hat sie vor ihrer Abreise über Ängste, Aufgaben auf der Station und ihre Faszination für das Ewige Eis gesprochen.
luhze: Frau Ort, wie geht es der Antarktis?
Ort: Die Antarktis ist ein großer Kontinent, umgeben von Wasser. Auf der südlichen Halbkugel haben wir nur 20 Prozent Landmasse. Die Antarktis profitiert noch von dieser guten Isolation von der restlichen Welt. Aber die Messungen zeigen den Anstieg der Temperaturen, die Zunahme der Aerosole und Spurenstoffe. Die Arktis müsste uns eine Lehre sein, dort ist der Klimawandel nicht mehr abzuwenden. Wir müssen jetzt wirklich was machen.
Sie fahren am 20. Dezember mit der „Polarstern“ zur deutschen Antarktisstation, um dort 15 Monate zu forschen. Vor drei Monaten haben Sie noch im Master Meteorologie studiert. Wie geht es Ihnen mit diesem harten Bruch in Ihrem Leben?
Ich sehe das als einmalige Chance. Natürlich ist es schwierig, seine Freunde und Familie so lange nicht mehr sehen zu können. Während meines Studiums habe ich ein Auslandssemester in Spitzbergen gemacht und die Eiswüste und Kälte lieben gelernt. Davon bin ich nie wirklich weggekommen und deshalb habe ich mir das Ziel gesetzt, in meinem Leben an beiden Polen gewesen zu sein. Nahe des Nordpols war ich in meinem Auslandssemester, jetzt ist der Südpol an der Reihe.
Ich habe sehr große Vorfreude auf dieses Erlebnis, diese überwältigende unkontrollierte Natur zu erfahren, aber auch auf die sozialen Aspekte. Wir sind zehn Menschen und haben uns in der Vorbereitungszeit schon gut kennengelernt. Mit diesen Wenigen so isoliert zu leben wird unheimlich spannend. Wir werden sehr viel über uns selbst und die anderen lernen.
Sie werden in der Neumayer-Station III überwintern. Was heißt das?
Jedes Jahr werden neun oder zehn Menschen ausgewählt und auf die Forschungsstation gebracht, um sie im antarktischen Winter am Laufen zu halten. Während dieser Zeit sind wir komplett auf uns selbst gestellt. Es gibt durch die Wetter- und logistischen Bedingungen keine Möglichkeit, uns da rauszuholen.
Nach vier Wochen Seefahrt kommen Sie mit dem Forschungsschiff „Polarstern“ in der Antarktis an. Spannen Sie dann Ihre Hunde vor die Schlitten und fahren zur Station?
Nein, Hunde sind an unserer Station nicht erlaubt. Wir haben komplett auf Maschinen umgesattelt, mit riesigen Pistenbullis werden unsere Container zur Station gebracht. Obwohl die Station nur 20 Kilometer von der Schelfeiskante entfernt ist, brauchen die Pistenbullis zwei bis drei Tage, um die komplette Fracht von der „Polarstern“ zur Station zu befördern, denn das Schiff besitzt nur einen Kran und die Bullis fahren mit gerade mal zehn bis 15 Kilometern die Stunde.
Was gehört zu Ihren Aufgaben als Luftchemikerin auf der Station?
Meine Aufgabe wird es sein, mich um das Spurenstoffobservatorium zu kümmern, die sogenannte „Spuso“. In dem Observatorium gibt es eine große Anzahl an Messgeräten, hier wird die Qualität und Quantität der Luft vermessen, also die Menge der Spurenstoffe, Treibhausgase, Aerosole, Rußpartikel, der CO2-Gehalt und viele weitere Eigenschaften. Ich werde diese Instrumente behüten und umsorgen. Dazu gehört, manchmal einen Filter zu wechseln, manchmal eine Probe zu nehmen – einfach dafür Sorge tragen, dass alles läuft. Dafür muss ich von der Station aus eineinhalb Kilometer an einer Leine zum Observatorium zu Fuß laufen. Das wird jeden Tag meine Routine sein.
Das wird nicht langweilig?
Ich habe mit der Luftchemikerin gesprochen, die zuletzt meine zukünftigen Aufgaben gemacht hat. Ihr Fazit war, dass es immer Unerwartetes gibt. Eigentlich gehe immer das kaputt, von dem man nicht denkt, dass es kaputt geht.
In der Antarktis gibt es Temperaturen bis minus 70 Grad. Im Winter wird es durch die Polarnacht fast vollständig dunkel. Das Leben auf der Station bietet wenig Privatsphäre. Wie bereitet man sich auf so eine lange und extreme Situation vor?
Naja, auf die Temperatur zumindest mit guter Kleidung. Wir waren im Bekleidungslager des Alfred-Wegener-Instituts (Awi), das die Station betreibt und haben insgesamt vier Säcke voller Klamotten bekommen. Da sind wir ausgezeichnet vorbereitet. Aus meiner Erfahrung in Spitzbergen kann ich auch sagen, dass man sich an die Kälte gewöhnt. Irgendwann war für meinen Körper minus 20 Grad Celsius die Idealtemperatur, bei der ich mich am wohlsten gefühlt habe. Und für den Rest wurden wir gut vorbereitet. Unsere Gruppe ist in die Alpen gefahren und hat dort auf einem Gletscher gezeltet und sich in Gletscherspalten abgeseilt. Wir waren in einer Bundeswehrkaserne in Dresden Neustadt und haben dort zum Beispiel in Spezialkleidung Löschtechniken ausprobiert, indem wir einen alten Helikopter in Brand gesetzt und ihn anschließend wieder gelöscht haben. Wir hatten ein gemeinsames Kommunikations- und Konfliktmanagementseminar, dem Awi ist es sehr wichtig, dass wir als Gruppe zusammen funktionieren. Damit es nicht langweilig wird, haben wir uns viele Hobbies mitgenommen. Ich habe Wolle dabei, weil ich endlich einmal stricken lernen möchte und meine Gitarre habe ich auch eingepackt. Ich denke, es ist wichtig, eine gewisse Routine zu haben, da sonst die Wochentage so verschwimmen. Zum Beispiel jeden Mittwoch Musikabend oder jeden Freitag in die Sauna gehen.
Eine Studie der Berliner Charité mit Überwinterer*innen der Neumayer-Station III hat herausgefunden, dass sich bestimmte Gehirnareale über diese Zeit verkleinern. Bereiche, die für das räumliche Denken und das Gedächtnis verantwortlich sind. Muss man so etwas einfach in Kauf nehmen?
Wir waren erst vor kurzem in der Charité in Berlin, da wir sehr interessant für die Wissenschaft und die Medizin sind. Wo hat man sonst die Gelegenheit, Menschen in einer so langen Zeit in Isolation zu untersuchen? Wir sind die perfekten Versuchskaninchen für die Raumfahrt. Über die Studie haben wir auch schon viel diskutiert, und dass das Gehirn schrumpft, ist eine witzige Sache. Aber es heißt nicht, dass man dadurch dümmer wird. Betroffen sind Gehirnareale, die wir in der Antarktis nicht mehr so stark brauchen. Wir haben eine extreme Kontinuität und wenig Eindrücke, da funktioniert das Gehirn so ein bisschen wie ein Muskel, der abgebaut wird, wenn man ihn nicht mehr so stark beansprucht.
Die Antarktis trägt auch den Namen „Eiswüste“. Pflanzen wachsen hier nicht. Wie versorgen Sie sich dort mit Essen?
Die Hauptversorgung bringen wir mit der „Polarstern“ mit. Das sind, bis auf wenige frische Lebensmittel, welche die vier Wochen auf See überlebt haben, hauptsächlich Tiefkühlware und haltbares Essen in Dosen. Aber wir haben einen Koch in unserem Team. Seine Kunst wird es sein, aus den Lebensmitteln für uns etwas zu zaubern und uns mit den nötigen Nährstoffen zu versorgen. Und auf der Neumayer III gibt es tatsächlich etwas Einmaliges: einen Garten Eden. Das ist ein Gewächshaus, entstanden in Kooperation mit der US-amerikanischen Weltraumorganisation Nasa und dem deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Dort werden Gemüse, Obst und Kräuter angebaut, ganz ohne Sonnenlicht und ohne Erde. Die Pflanzen werden mit UV-Licht bestrahlt und die Wurzeln mit einer Nährstofflösung besprüht, dafür kommt extra eine Botanikerin der Nasa mit, die sich um das effektive Anbauen kümmert.
Und dann gibt es ab und zu einen Apfel vom Baum der Erkenntnis?
Ja, mal sehen, was da wächst. Ich weiß, dass es auf jeden Fall Tomaten, Salate sowie Paprika gibt und vielleicht ja auch mal eine Gurke. Aber leider keine Äpfel.
Titelfoto: Privat
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