Der Kälte ausgeliefert
Lieferando ist für seine Monopolstellung in der Branche der Essenslieferdienste bekannt. Für unsere Januar-Ausgabe haben wir einen Fahrradkurier bei seinem Arbeitsalltag im Lockdown-Winter begleitet.
Der Türöffner summt. Marco Hackenjos drückt sich und den riesigen orangefarbenen Rucksack durch die Tür eines Jahrhundertwendehauses in der Leipziger Südvorstadt. Seine dunkelblonden Haare liegen ihm nass auf der Stirn, es schneit. Die Treppenhäuser seiner Kund*innen sind eine willkommene Pause von dem kalten, grauen Januarwetter. Marco ist Fahrradkurier bei Lieferando. Die kleine Vermietungsfirma für Ferienwohnungen, die er mit einem Freund gegründet hat, wirft noch nicht genug Geld ab, um davon leben zu können. Deshalb arbeitet er seit Mai letzten Jahres auf 450-Euro-Basis für Lieferando. Der niederländische Konzern „Just Eat Takeaway“ hatte vor zwei Jahren die Lieferdienste „Foodora“, „Lieferheld“ und „Pizza.de“ gekauft, zu Lieferando vereint und seine Einnahmen in Deutschland verdoppelt. Seitdem wird er für seine Monopolstellung und teils schlechte Arbeitsbedingungen der Fahrer*innen kritisiert.
Marco tippt auf ein blaues Häkchen in der Lieferando-App, um die Lieferung zu bestätigen. Von seinen Fingernägeln blättert schwarzer Nagellack. Jetzt muss er warten, auf den nächsten Auftrag. Es ist Freitagabend, Prime Time für Essenslieferungen. Von Januar bis Juli 2020 sind bei Lieferando Deutschland 49 Millionen Bestellungen eingegangen, 21 Millionen mehr als im Vorjahr. Für immer mehr Restaurants ist der Lieferservice eine wichtige Einnahmequelle, da sie wegen der aktuellen Infektionsschutzmaßnahmen schließen müssen. Viele Restaurantbetreiber*innen sehen sich in eine Abhängigkeit gedrängt und beschweren sich über die hohe Provision, die sie an Lieferando zahlen müssen: 30 Prozent des Bestellwerts pro Lieferung. Restaurants, die lediglich die Plattform nutzen und das Essen selbst ausfahren, geben 13 Prozent des Bestellwerts an Lieferando ab.
Masken und Amazon-Gutscheine
Das Smartphone in Marcos grauer Jogginghose vibriert, ein neuer Auftrag. Nächster Halt: ein Burger-Imbiss am Bayerischen Bahnhof. Die obligatorischen Handschuhe und die Winterjacke schützen ihn vor der eisigen Kälte. An der Tür des Imbisses kleben Schilder, die zum Abstandhalten und Tragen einer Maske auffordern. Die Männer hinter der Theke tragen ihren Mundschutz unter dem Kinn, mit Marco stehen vier Menschen in dem kleinen Laden. Marco fühlt sich trotzdem durch den Job nicht besonders gefährdet: „Ich habe immer wieder Kontakt mit Menschen, gerade in Restaurants ist man auch mal auf engerem Raum zusammen, aber dort tragen wir immer Masken.“ Im März hatten Lieferando-Kurier*innen eine Petition für Desinfektionsmittel, Schutzkleidung und bessere Arbeitsbedingungen gestartet, mit dem Ergebnis, dass Lieferando den Fahrer*innen nun Masken, Desinfektionsmittel und Handschuhe zur Verfügung stellt.
Marco steigt wieder auf das weiße Lieferando-Fahrrad mit den orangefarbenen Schutzblechen, das Licht ist abgefallen. Fahrradfahren ist seine neue Leidenschaft, seit er den Job angenommen hat. Ein Stück Freiheit. Sein eigenes Fahrrad hat er auch schon zum Arbeiten benutzt. Mittlerweile bekommen Fahrer*innen, die ihr privates Rad benutzen, eine Verschleißpauschale in Form eines Amazon-Gutscheins. „Das ist nicht die Welt, aber es gleicht die Kosten ein wenig aus“, meint Marco. Angst, dass sein privates Handy, dass er für die Arbeit braucht, kaputt geht, hat Marco nicht, Lieferando stellt ihm eine wasserdichte Halterung. Ein kurzer Blick auf die App, es geht in Richtung Süden. Nach ein paar Monaten als Fahrradkurier kennt er die Stadt in- und auswendig. Das schätzt er an seinem Nebenjob, genauso wie die flexiblen Arbeitszeiten.
Der nächste Halt ist ein vietnamesisches Restaurant auf der Karl-Liebknecht-Straße. Marco muss draußen warten, wegen der Infektionsgefahr. „Im Sommer ist es schon schöner“, sagt Marco und lächelt verlegen. Vor dem mit grellem Licht erleuchteten Schaufenster steht ein kleiner Tisch mit einer Flasche Desinfektionsmittel. Nach ein paar Minuten geht die Tür des Restaurants auf und ein Mitarbeiter stellt eine braune Papiertüte auf den Tisch. Marco schaut kurz hinein: „Bei Suppen muss ich vorsichtig fahren, mir ist schon einmal etwas im Rucksack ausgelaufen“, sagt er und schwingt sich auf sein Rad. Die Zeppelinbrücke ist voll mit Autos. Marco weicht den Pfützen auf dem schmalen Fahrradweg aus, überholt zwei Radfahrer*innen. Ein Fuchs huscht über die Straße. Oft hört er bei der Arbeit schnellen Techno, um sein Tempo zu steigern.
Gig-Economy
Marco sucht den Nachnamen seines Kunden auf dem Klingelschild eines neu sanierten Wohnblocks. „Hallo, im ersten Stock rechts, bitte“, schallt es aus der Gegensprechanlage. In den vierten Stock muss Marco nur selten, meistens kommen ihm die Kund*innen auch entgegen. Vier Euro Trinkgeld, Marco ist zufrieden. Dieses wird trotz Infektionsgefahr meist in bar gegeben. An einem guten Tag verdient Marco so etwa 20 Euro dazu, manchmal aber auch nur fünf. Nicht alle Kund*innen ziehen Masken auf, wenn sie das Essen entgegennehmen, aber Marco findet, das sei eine private Entscheidung. Ein Klick in der App, die Lieferung bestätigen, Marco ist wieder verfügbar. Auch ohne neuen Auftrag will er sofort wieder losfahren: „Wenn man im Westen unterwegs ist und Pech hat, kriegt man den McDonalds in Grünau“, sagt er, während er sich auf das Fahrrad schwingt.
Es ist dunkel geworden, nur die gelblichen Straßenlaternen leuchten Marco den Weg. Plötzlich kommen ihm zwei Beamt*innen von der Polizeibehörde entgegen. Marco muss anhalten, er hat kein Licht am Fahrrad. Seine Personalien werden aufgenommen, er soll 20 Euro Strafe zahlen. Marcos Wangen sind rot angelaufen, von der Kälte und dem Gefühl, erwischt worden zu sein. Er spricht mit ruhiger Stimme: „Das ist ärgerlich, aber ich bezahle das mit Ehre. Es ist falsch, ohne Licht zu fahren.“ Die Strafe muss er aus eigener Tasche zahlen. Kontakt mit einer Gewerkschaft oder einem Betriebsrat hatte Marco noch nie. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten hat sechs Betriebsräte bei Lieferando in Deutschland aufgebaut, was schwierig ist, wenn die Beschäftigten nur befristete Verträge haben und alleine per App arbeiten. Auch die Freie Arbeiter*innen Union (FAU), eine anarcho-syndikalistische Gewerkschaftsföderation mit einer Lieferando-Betriebsgruppe, setzt sich für Beschäftigte in der Branche ein. Die FAU besteht aus kleinen lokalen Gewerkschaften, den Syndikaten. Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen. Immer wieder organisiert die FAU Protestaktionen, die auf schlechte Arbeitsbedingungen von Beschäftigten in der „Gig-Economy“ aufmerksam machen sollen. Viele Fahrradkurier*innen werden nicht angestellt, sondern pro Auftrag, pro „Gig“ bezahlt, müssen eigene Räder und Handys benutzen, Uniformen kaufen und sich selbst versichern. Wer angestellt wird und wer in einer Art Scheinselbstständigkeit arbeiten muss, ist dabei oft unklar. Ansprechpartner*innen für die Arbeitnehmer*innen sind häufig schlecht erreichbar und Vernetzung untereinander gibt es kaum, wenn man per App arbeitet. Marco kann die Unzufriedenheit von Scheinselbstständigen verstehen, als Angestellter findet er die Arbeitsbedingungen aber fair. Er verdient zehn Euro pro Stunde und bekommt die Schichten, die er will. Zwei Dinge wünscht er sich aber doch: ein Firmenhandy und eine Kommunikationsplattform für die Fahrer*innen.
Der Hub
Nach der Kontrolle muss Marco das Rad ohne Vorderlicht zum Hub schieben, der Zentrale von Lieferando auf der Käthe-Kollwitz-Straße. Er lacht: „So geht die Zeit auch rum.“ Der Hub ist eine kleine, mit Leuchtstoffröhren beleuchtete Ladenfläche. Hier beginnen und beenden alle Fahrradkurier*innen ihre Schicht, die mit dem Firmen-E-Bike arbeiten. Marco hat Glück, es ist noch ein Rad verfügbar. Vor dem Hub steht eine Gruppe von Fahrradkurier*innen, die sich fröhlich unterhalten. Der Austausch mit anderen Fahrer*innen ist für Marco das Schönste an dem Job. „Hier kommen so viele verschiedene Charaktere zusammen. Wir sind alle junge Leute aus verschiedensten Ländern, das ist wirklich schön.“ Leider gibt es in seinem Arbeitsalltag nur wenige Momente, in denen er Kolleg*innen trifft. Regelmäßigen Kontakt hat er nur mit seinem Dispatcher, dem leitenden Angestellten im Hub, den Marco über die App kontaktieren kann, wenn es Probleme gibt.
Mit dem neuen Rad aus dem Hub geht es weiter zum nächsten Restaurant. Marco fährt schnell, über eine rote Ampel und um in zweiter Reihe parkende Lieferwagen herum. Aus der Puste kommt er trotz der Geschwindigkeit nicht. „Man ist gezwungen, sich fit zu halten“, lacht Marco.
Bei Lieferando gibt es ein Bonus-System, nach dem die Fahrer*innen gestaffelt mehr Geld bekommen, je mehr Lieferungen sie tätigen. Ab 250 Lieferungen pro Monat bekommen die Fahrradkurier*innen einen Euro pro Bestellung dazu. Für Marco ist das nur ein kleiner Anreiz, schneller zu fahren, anders als für Kolleg*innen, die Vollzeit arbeiten. Einen Unfall hatte Marco bei der Arbeit noch nie, aber eine Kollegin ist letzten Sommer achtmal gestürzt: „Ich weiß nicht, ob das Erfahrung ist oder einfach Glück, ich bin nur mal ins Schlittern gekommen.“ Ab und zu rutschen Marcos schwarze Turnschuhe von den nassen Pedalen, doch er wirkt entspannt, während er durch die dunklen Straßen huscht. Um 21 Uhr ist seine Schicht zu Ende, dann freut er sich auf etwas zu essen und sein Bett. Nach einer Schicht hat er gerade noch genug Energie, um zu kochen. Selbst bestellt Marco nie, besonders nicht für sich alleine. Dafür ist er zu sparsam.
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