Die Insel namens Lockdown
Kolumnistin Julia schreibt vom plötzlichen Zusammenwohnen auf engstem Raum und wie der Lockdown zum Kampf um den Schreibtisch wird.
Mal angenommen, du wärst über drei Monate auf einer einsamen Insel, die Insel ist deine Ein-Zimmer-Wohnung und du kannst nicht raus, weil draußen eine weltweite Pandemie wütet. Mit wem würdest du die Zeit verbringen?
Diese – vor nicht allzu langer Zeit noch völlig unrealistische – Frage wurde für mich im zweiten Lockdown zur Realität. Die Wahl fiel auf meinen Freund. Zusammenziehen ist für viele junge Paare ein Zukunftsthema – auch für uns. Wir waren gerade ein Jahr zusammen, als er bei mir einzog. Ich weiß nicht, welche Zeitvorstellung ich für das Zusammenziehen hatte, zumindest keine so rasche, nicht, bis er mit seinem Master fertig ist und wir nicht mehr daran vorbeikommen würden, über die Zukunft zu reden. Corona machts möglich. Aus einem Monat während des Lockdowns wurden zwei und jetzt ist er immer noch hier. In meiner Ein-Zimmer-Wohnung, zu zweit, 24 Stunden am Tag, seit über drei Monaten.
Was für das harmonische Zusammenleben in jeder WG zählt, gilt auch hier. Communication is key! Deshalb musste vorab auch ein Schlachtplan ausgehandelt werden. Er, Frühaufsteher, ich, Langschäferin. Er, Typ diszipliniert und pünktlich, ich, Typ 100 Dinge auf einmal und alles auf den letzten Drücker. Jeden Tag wird ausgefochten: Wer bekommt heute den Schreibtisch, wer muss an den Esstisch? Wann hat wer Seminar oder einen Termin bei der Arbeit? Wann muss der eine reden und die andere schweigen? Wann sind welche Teile der Wohnung wegen des Zoom-Kameraausschnitts nicht begehbar und ist der Kühlschrank im Bild?
Wirklich alles muss abgesprochen werden. Ich habe Klausur, er blockt Telefonate bei der Arbeit. Er hat einen Vortrag, ich kann nicht Podcast hören. Zumindest nicht laut. Seit einiger Zeit herrscht hier Kopfhörer-Plicht. Die reicht so weit, dass wir eines Abends feststellen mussten, dass wir gerade den gleichen Podcast hören, an derselben Stelle. Wir haben ihn dann laut gemacht. Es läuft nicht alles immer optimal. Als ich ein Referat hatte, war ich noch nicht auf stumm geschaltet als meine Referatspartnerin mit ihrem Teil begann. Das gesamte Seminar konnte jetzt live am Arbeitstermin meines Freundes teilnehmen. Einmal habe ich den Einkauf eingeräumt, als er noch einen Termin hatte und bin unbedacht voll ins Bild gelaufen. Seitdem krieche ich den Boden entlang, wenn ich mein Handy auf dem Sofa vergessen habe – oder er macht kurz die Kamera aus, aber was ist lustiger? Seine mündliche Prüfung hat er um eine halbe Stunde nach vorne verschoben, weil sie sonst zeitgleich zu einer meiner Klausuren stattgefunden hätte.
Er ist immer da. Ob beim Kochabend mit einer Freundin oder beim Zoom-Call mit alten Kommiliton*innen. Wenn sich jemand konzentrieren muss oder schon schlafen will, wird das Bad zur Telefonzelle. Seine Freund*innen sind an mich gewöhnt. Meine Freund*innen sind an ihn gewöhnt. Plötzlich sind wir dieses eine Paar, dass nur noch im WIR spricht und das, zumindest Zuhause, nur noch zu zweit anzutreffen ist. Manchmal weiß ich nicht, ob wir überhaupt noch gesellschaftsfähig sind, aber wer ist das nach dieser Pandemie schon?
Es ist keine Dauerlösung, aber eben unsere Lockdown-Lösung, die hundert Mal besser ist als die Alternative. Allein in einer schlafenden Stadt. Manchmal halte ich kurz inne und lache darüber, wie verrückt es ist, dass wir seit Monaten so leben und wundere mich, dass das überhaupt funktioniert, wie wir das täglich möglich machen, ohne völlig durchzudrehen. Ich schätze, besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Auf dieser einsamen Insel namens Lockdown sind wir zu zweit, 24 Stunden am Tag, seit über drei Monaten.
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