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  • „Wir leisten einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsfindung“

    Hans-Ulrich Demuth ist Mitglied im Ethikrat. Mit luhze hat er über die Impfstoffverteilung, den Immunitätsnachweis und rationale Entscheidungen gesprochen.

    Hans-Ulrich Demuth ist Mitglied im Ethikrat, der regelmäßig Stellungnahmen zu Anfragen der Bundesregierung, des Bundestags oder anderen öffentlich diskutierten Fragen veröffentlicht. Mit luhze-Redakteur Jonas Waack hat der Professor für Pharmabiotechnologie über die Impfstoffverteilung, den Immunitätsnachweis und rationale Entscheidungen gesprochen.

    luhze: Die wichtigste Aufgabe des Ethikrats war in letzter Zeit sicherlich die Entscheidung zur Impfstoffverteilung. Sind Sie eigentlich schon geimpft?

    Demuth: Nein, ich gehöre aber zu zwei Risikoklassifizierungen – wegen meines Alters und wegen einer Vorerkrankung aus Kindertagen, die sich vor einigen Jahren für Monate zu einer Lungenentzündung entwickelt hat.

    Wissen Sie denn, wann Sie geimpft werden?

    Damit habe ich mich noch nicht beschäftigt.

    Was zeichnet Sie aus, dass Sie die Bundesregierung in dieser wichtigen Entscheidung beraten dürfen?

    Die Auswahl der Ethikratmitglieder kommt auf Basis ihrer Expertise und jahrelangen wissenschaftlichen Arbeit zustande. Das gibt ihnen die Möglichkeit, sich in solche Entscheidungen einzubringen. Und ich kann Ihnen sagen, dass diese Entscheidungsfindung nicht einfach ist. Im Ethikrat sitzen circa sieben Ethiker, sieben Theologen, fünf Juristen, drei Mediziner und ein einziger Naturwissenschaftler – das bin ich.

    Es sind naturgemäß vor allem ethische Entscheidungen, die Sie im Ethikrat treffen. Warum sind Sie als Naturwissenschaftler dabei?

    Ich bilde mir meine Meinung zu den erarbeiteten Positionen. Federführend sind natürlich die Ethiker, Juristen und Theologen, alle auf philosophischem Gebiet hochgebildete Personen. Das funktioniert vice versa: Wenn sie zu biologischen Fragestellungen konsultiert werden, können sie auch nur ihren gesunden Menschenverstand sprechen lassen, so wie ich das umgekehrt bei ethischen Fragen tue. Wenn ich keine Ahnung habe, halte ich mich gern zurück. Oft schaue ich auf Wikipedia nach, wenn neue Begriffe auftauchen, damit ich weiß, worum es geht.

    Sie ergänzen sich gegenseitig.

    Absolut, das ist der Sinn der Übung: Dass ein Gremium zusammenkommt, das einen bestimmten Sachverhalt von verschiedenen Seiten beleuchtet. In der Arbeitsgruppe zur Pandemie bin ich als Korrespondent. Das heißt, dass ich nicht an den Konferenzen teilnehme, aber die Ausarbeitungen gegenlese und meine Meinung dazu sage. Die Arbeitsgruppe, in der ich aktiv mitarbeite, ist die Arbeitsgruppe Mensch und Maschine. Dort werden dann die Positionen der Ethtikratmitglieder vorgetragen und wenn dann eine Vorlage formuliert wurde, mit der man ins Plenum gehen kann, wird sie dort vorgestellt und zur Abstimmung geführt. Die letzte große Auseinandersetzung war nicht die Impfpriorisierung, die war relativ einfach.

    Warum einfach?

    Da ist es anders gelaufen als es normalerweise läuft. Herr Spahn hat, vorsichtig wie er ist, der ständigen Impfkommission, die seinem Ministerium zugeordnet ist, eine saubere, breite Entscheidung allein – ich sag es mal vorsichtig – wahrscheinlich nicht zugetraut, sondern ist auf die Idee gekommen, dass es noch zwei andere Institutionen gibt: die Leopoldina und den Ethikrat. Die haben dann eine trilaterale Kommission gebildet, die mit mehreren Mitgliedern der drei Einrichtungen bestückt war, von uns waren es vier. Das Papier, das dort erarbeitet wurde, ging ins Plenum, wir haben unsere Meinung gesagt und zurückgeschickt. Das ging ziemlich schnell, damit schnell eine Verfügung erfolgen konnte.

    Die Entscheidung war einfach, weil es schnell gehen musste?

    Nicht weil es schnell gehen musste, sondern weil es keinen Weg um die Gruppierung der Personengruppen herum gab.

    Was war denn die letzte große Auseinandersetzung im Ethikrat?

    Die Diskussion um den Immunitätsnachweis. Herr Spahn stellt sich vor, dass diejenigen, die nachweislich über einen längeren Zeitraum Immunität nachweisen können, einen Immunitätspass bekommen, mit dem das Leben und die berufliche Aktivität des Trägers vereinfacht werden.

    Da sind die Meinungen diametral auseinandergegangen. In das finale Papier sind dann die Positionen, über die wir einer Meinung waren, eingeflossen und im Vor- und Nachwort wurden die beiden Lager benannt. Da steht, dass es Differenzen aus verschiedenen Gründen gab, und im Nachwort wurde fixiert, welche Ratsmitglieder für welche Voten eingetreten sind.

    Auf der einen Seite wäre der Immunitätsnachweis ein Freibrief für den, der ihn hat, und eine Diskriminierung für die, die ihn nicht haben. Was machen Sie dann? Das ist eine Belastung für diejenigen, die viel Verantwortung auf sich genommen haben, meinetwegen in den Kliniken arbeiten. Für beide Positionen gibt es Argumente. Nach unserer Verfassung dürfte es einen Immunitätsnachweis nicht geben. Nach der gesellschaftlichen Notwendigkeit unter Umständen schon. Hotel- oder Gaststättenbesitzer könnten einen Immunitätsnachweis von ihren Gästen verlangen, damit sie nicht Gefahr laufen, zu einem Hotspot zu werden.

    Im Ethikrat ist es so ausgegangen, dass die eine Hälfte einen Immunitätsnachweis bedingungslos abgelehnt hat. Die andere Hälfte lehnt ihn zum jetzigen Zeitpunkt auch ab, aber wenn die wissenschaftlich geprüften Immunitätsnachweisverfahren da sind, sollte man das nochmal überdenken. Ersteres teile ich aus naturwissenschaftlichen Gründen nicht, weil ich der Meinung bin, dass im Interesse der Gesellschaft eines Tages eine Lösung her muss. Die Möglichkeit, entsprechend zu reagieren, muss man sich erhalten.

    In der Coronakrise ist die wissenschaftliche Politikberatung so präsent wie nie. Hat sie im vergangenen Jahr an Einfluss gewonnen oder ist sie nur sichtbarer geworden?

    Beides. Sie hat aufgrund der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, von denen man zuvor überhaupt keine Ahnung hatte, an Einfluss gewonnen und ist daraufhin sichtbarer geworden.

    Ist das gut?

    Absolut. Das sollte öfter so sein! Ein Sachverhalt wird von mehreren Seiten beleuchtet, um eine mehr oder weniger weise Position am Ende rauszukriegen. Ich muss Ihnen sagen: Das empfinde ich wirklich als Demokratie. Wir leisten einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsfindung, die dann auch in Gesetzgebung einfließt.

    Im Ethikrat sind Sie für die „naturwissenschaftliche Bildung als Grundlage für rationale Entscheidungsfindung in der Politik“ zuständig. Was ist rationale Entscheidungsfindung eigentlich?

    Entscheidungen müssen auf einer soliden Faktenbasis getroffen, also ordentlich überdacht und dann in ein Entscheidungsbild gebracht werden.

    Was machen Sie dann in Fällen wie dem Immunitätsnachweis, wo es zwei Lager gibt? Gibt es da eine rationale Entscheidung?

    Die rationale Entscheidung war da am Ende, uns auf zwanzig Punkte zu einigen und eine Präambel und ein Nachwort zu setzen, in denen wir die differenten Meinungen darstellen. Das halte ich für eine rationale Entscheidungsfindung auf der Basis einer gut diskutierten Faktenlage.

    Was ist dann irrationale Entscheidungsfindung?

    Das hieße Entscheidungsfindung auf der Basis von Hirngespinsten. Ich hoffe nicht, dass das passiert!

    Wenn wir auf die aktuellen Einschränkungen blicken: Sind das rationale Entscheidungen? Was passiert bei unklarer Faktenlage?

    Man muss sich natürlich zum Beispiel damit auseinandersetzen, was ein 15-Kilometer-Radius in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern auf der einen Seite und in der Innenstadt von Leipzig oder Berlin auf der anderen bedeuten. Das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuh. Die Frage ist, wie man damit umgeht und warum man das so entschieden hat. Daran waren wir nicht beteiligt und ich weiß nicht, ob wir dem 15-Kilometer-Radius zugestimmt hätten. So wie ich meine Rats-Kollegen kenne, hätten wir das nicht getan.

    Ist das dann eine irrationale Entscheidung?

    Nein, das ist eine Entscheidung, die aus der Not heraus geboren ist, genauso wie die Entscheidung, dass man nur noch mit einer einzigen Person aus einem fremden Hausstand zusammenkommen darf. Es geht darum, die Kontaktmenge so zu verringern, dass die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung und die wahnsinnig hohen Zahlen, die wir hören, runtergeregelt werden. Anfang Januar waren die Todeszahlen wieder über 1.000! Das geht nur, indem solche Maßnahmen ergriffen werden. Das ist nicht irrational.

    Was macht die Impfstoffverteilung rational?

    Es geht darum, wer die empfindlichsten, vulnerabelsten Personen sind. Das sind die Menschen in den Altenheimen und der gesamte Betreuungsstab in den Kliniken und den Altenheimen. Und dann gibt es eine Abstufung auf der Basis – und das ist das rationale – der geringen Impfstoffmenge, die zur Verfügung steht. Es geht darum, wie man das verteilt, ohne allen anderen in der Gesellschaft gegenüber ungerecht zu werden. Wie Sie es vorhin gesagt haben: Sie sehen ein, dass Sie nicht als Erster dran sind. Die Kanzlerin hat gestern gesagt, dass sie sich impfen lässt, wenn sie dran ist. Sie hat sich also auch in die Reihe derjenigen gestellt, die jetzt noch nicht dran sind. Jetzt sind die dran, deren Gefahr, sich zu infizieren und an der Krankheit zu sterben, am größten ist, und natürlich dann auch die Gefahr, dass sie zu Superspreadern werden. Logischerweise muss man bei diesen Bevölkerungsgruppen beginnen zu impfen.

    Ein Nachsatz: Das Verhalten von bestimmten Kommunalpolitikern, wie den Landräten aus Wittenberg, und dem Oberbürgermeister in Halle, die sich an allen Regeln vorbei haben impfen lassen, ist unethisch und unsolidarisch. Da sollte es meines Erachtens nicht nur bei einer Rüge durch die Landesregierung bleiben!

    Geht es um die Gefahr, infiziert zu werden, oder an Covid-19 zu sterben?

    Um beides. Stellen Sie sich vor, Sie würden der Generation Ihrer Eltern und Großeltern sagen, die – in welcher Form auch immer – viel für die Entwicklung dieses Landes getan haben: „Jetzt müsst ihr abtreten, wir sind dran.“ Das ist unethisch. Man kann nur unter diesen Gesichtspunkten versuchen, eine Entscheidung zu finden.

    Titelfoto: Marco Warmuth

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