Lost-Generation Schule?
Auf fehlenden Unterricht und mangelnde Digitalangebote folgt in den Schulen nun wegen der Pandemie das Erwachen. Doch das System war schon lange vor Corona kaputt, findet Kolumnist Dennis.
Schülerinnen und Schüler sind wohl neben den unmittelbar von dem Virus Betroffenen die größten Verlierer der Pandemie, zumindest wenn man die mediale Dauerwinzelorgie dazu als Referenz heranzieht. Schulen öffnen, oder doch nicht? Wer passt auf die „Plagen“ auf, wenn Papa und Mama an der Karriere feilen, wie bekomme ich „den Internet“ an und wie lange kann ich das Fenster öffnen, bevor die Erkältungswahrscheinlichkeit die einer Coronainfektion übertrifft? All das sind die Fragen der Stunde und unsere Volksvertreter zucken mit den Schultern, während sie bei Candy Crush neue Bestleistungen aufstellen.
Hin und wieder kommt aber auch mal ein nützlicher Tipp ums Eck, zum Beispiel doch einfach mal ein paar Kniebeugen zur Aufwärmung zu machen. Für den Lehrer gibt’s schließlich nichts Genialeres, als wenn ADHS-Kevin seinen Namen quer durch den Klassenraum tanzt. Oder man macht es wie die NRW-Bildungsministerin Gebauer (FDP), die einfach mehr Kompetenz als alle Wissenschaftler zusammen hat und die Schulen trotz jeder Warnung offen lassen wollte. Doch neben dem angewandten Hyperrealismus gibt es auch die dauerbedenkentragenden Schwarzmaler, wie Lehrerverbandschef Meininger, der von einer „verlorenen Generation“ spricht und der sagt, dass der Schulausfall den jungen Menschen die Zukunft verbauen würde.
Als ich das gelesen habe, ist mir vor Lachen fast das Internet kaputt gegangen und ich fragte mich, ob er das ernst meint oder nur verzweifelt versucht, mit irgendeinem Narrativ seine auf verlorenen Posten kämpfende Berufsgruppe besser lobbyieren zu können.
Schauen wir uns die Sache doch mal an. Schließlich ist Schule ein Thema, durch das wir uns alle mal quälen mussten. Meine Schulzeit war vor allem durch drei Punkte geprägt: Zeit absitzen, semi-gute Noten und Disziplinarmaßnahmen. Während ich die Grundschulzeit noch ohne größere Schäden hinter mich gebracht habe (hattet ihr auch noch „Milchdienst“ und gar kein Bock darauf?), ging es in der Realschule steil bergab. Meine Zeit verbrachte ich damit zu malen und machte auch kein Hehl daraus, dem Lehrer mitzuteilen, wie ich das, was mir gerade abgenötigt wurde, finde. Das machte mich vor allem zum Klassenclown und brachte mir auch einige Zeit vor der Tür ein. Produktiv mitgearbeitet habe ich hingegen weniger, denn ich war froh, wenn die Person vorne die Klappe gehalten hat und gelernt habe ich wenn dann nur auf Pump kurz vor der Klausur. Die Zeit im Unterricht hätte ich ebenso zuhause vor der Playstation verbringen können.
Nach einer Reise hinaus aus dem gewohnten Dunstkreis nach Monaco in Kombination mit intrinsischer Motivation, bin ich in der zehnten Klasse dann doch auf den Trichter gekommen, dass mit einem unterirdischen Zeugnis von der Schule abzugehen ohne eine klare Perspektive doch nicht die beste Performance ist.
Ich wiederholte die Zehnte und wechselte auf ein Berufliches Gymnasium. Dort fand ich mich in einer Klasse mit 80 Prozent Männeranteil wieder, von denen nochmal 80 Prozent einer urbanen Subkultur angehörten und einige schon einen Berufsabschluss vorweisen konnte. Das führte dazu, dass hier das Schulsystem deutlich kritischer hinterfragt wurde und die Klassenkameraden auch nicht viel von sowas wie der Anwesenheitspflicht hielt. Verweise wegen unentschuldigtem Fehlen waren Gang und Gebe, meine Banknachbarin flog deswegen sogar von der Schule. Zum anderen galt die Devise, man wird hier ohnehin nur verarscht (entschärft ausgedrückt) und wir müssten halt irgendwie hier durch, um am Ende diesen „Schein“ (Abitur) zu erhalten.
Aus den oben genannten negativen Kehrseite-der-Klassenzimmertür-Erfahrungen und einer gewissen Reife hielt ich mich mit meiner gut konservierten Antihaltung zurück und stellte diese lediglich optisch, durch die ausgelebte Metal-Anhängerschaft und die letzte Bankreihe zur Schau.
Jetzt wirst du dich als Lehrerliebling natürlich mit erhobenem Kinn hinstellen und sagen, ich wäre genauso repräsentativ wie ADHS-Kevin. Und ich sage dir – ja, aber ich bin eben auch keine krasse Ausnahme. Jeder von uns lernt anders. Für die einen ist es wichtig, dass sie jeden Tag in der Bankreihe sitzen und den Lehrer angrinsen. Für die anderen, so wie für mich, ist Frontalunterricht Müll und wenn sie in einem stickigen Klassenzimmer sitzen, hat keiner was davon, weder sie selbst, noch die Leute um sie herum, die nur abgelenkt werden und die Lehrkraft schon gar nicht. Es bringt gerade in der Pubertät gar nichts, Jugendliche sechs Stunden zu zwingen an einem maroden, heruntergesparten Ort zu sein, wo sie nicht sein wollen und ihnen etwas über Mitochondrien oder Faust beizubringen, wenn sie sich eigentlich nur für ihre Mitschülerin Nastja interessieren.
Jetzt, wo die Schulen zu sind, ist der ideale Zeitpunkt gekommen, um das System zu ändern. Aber wo sind denn die individuellen Digitalisierungsangebote, wo sind die iPads, die Occulus Rift Brillen und wo sind die Fächer Programmiersprache und Wirtschaft? Ich sehe nur Goethe, der ist seit 200 Jahren tot und war damals schon der dritte Besitzer von meinem Mathebuch in der Neunten.
Das ist alles nur eine Komfortzone. Wenn wir erst heute die Schule erfinden würden, würden wir sie dann noch nach preußischem Sozialismus mit Schulgebäuden, die aufgebaut sind wie Kasernen gestalten? Wobei es nur um Gleichmacherei geht, um junge Leute möglichst verwertbar für Wirtschaft und Verwaltung zu machen? Vermutlich nicht. Aber vielleicht müssen Dinge so wie jetzt erst mal komplett zusammenbrechen, bevor etwas Neues und Besseres entstehen kann und die Politiker und Pädagogen realisieren, dass unser Schulsystem seit Jahrzehnten verdammt viele Verlierer hervorbringt. Doch bis dahin werden noch viele Polylux-Lampen durchbrennen.
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.