Guten Morgen Palmesel
Kolumnistin Hannah fragt sich, warum sie nicht ohne schlechtes Gewissen ausschlafen und faul sein kann, obwohl sie es sowieso tut.
Dieser eine Sonntag vor Ostern wird von mir aufs Schlimmste gefürchtet, seitdem meine Mutter mich das erste Mal hämisch zwinkernd „den Palmesel“ nannte, weil ich mich um elf Uhr als Letzte an den Frühstückstisch schleppte. An jenem Sonntag im Jahr habe ich mir seitdem den Wecker gestellt. Zur Erklärung: Es ist ein Brauch katholischen Ursprungs, vor allem in Bayern bekannt. Es geht um den Einzug Christi nach Jerusalem, der auf einem Esel stattgefunden hat und dann gab es da noch irgendwelche Palmwedel und genau deshalb werden jetzt seit jeher am Palmsonntag die Langschläfer der Familien gequält.
Fazit: Der Palmesel will man nicht sein. Diese seelische Erschütterung meiner Kindheit, der Scham des Langeschlafens, setzt sich bis heute fort.
Mein Pflichtbewusstsein ist wirklich groß. Groß genug, um immer morgens aufzustehen.
Wenn meine Vorlesung um acht beginnt, dann stehe ich auch auf. Ich stehe auf, schleppe mich in die Küche, setze meinen Kaffee auf. Und dann, dann lege ich mich wieder ins Bett. Um die Vorlesung zu schauen. Spoiler: keine gute Idee. Manchmal mache ich dann nur ganz kurz die Augen zu, zuhören reicht ja. Und schon ist es passiert.
Wenn ich um elf das nächste Mal aufwache, bin ich richtig sauer.
Es gibt andere Studis, die stehen tatsächlich zu unmöglichen Uhrzeiten auf. Sechs Uhr morgens. Um joggen zu gehen. Wenn ich momentan meine Vorhänge morgens zur Seite schiebe, werfe ich mich leidenschaftlich gerne zurück in meine Kissen, wälze mich ein paar Mal hin und her, grunze genüsslich und mache nochmal die Augen zu. So wird es schnell mal zehn oder halt noch später. Allerdings plagt mich mein Gewissen wirklich sehr. Fast so sehr, wie wenn ich schon wieder Müsli zu Abend esse, weil kein Gemüse da ist, aber das ist eine andere Sache.
Es tun sich in diesen Zeiten wahre Abgründe auf zwischen den sechs-Uhr-Menschen und denen meiner Sorte. Zeiten, in denen die absolute Verantwortung in unserer Hand liegt, mit der uns verfügbaren Zeit eigenständig umzugehen und sinnvoll zu nutzen. Aber was ist dieses ominöse Sinnvoll?
Es kontrolliert niemand. Also merkt auch keiner, ob wir am Ende den ganzen Tag im Bett liegen. Es würde gar monatelang niemand bemerken. Trotzdem fühlen wir uns schlecht. Trotzdem oder gerade deswegen gibt es da eine Tendenz der Kompensation dieser Freiheit, die ich auch bei anderen Bewohnern dieses Planeten zuweilen beobachte: Den Tagesablauf trotz des „Nichts“ so strukturiert und normal wie möglich zu halten.
Allerdings kommt diese Produktivitätsmanie unserer Gesellschaft auch nicht von irgendwo her. Diese deutsche Arbeitsmoral bekommen wir doch schon als kleine Kinder infiltriert, als Schnittchen zubereitet in der Tupperdose.
In einer nicht so unbekannten Publikation, „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, schreibt Soziologe Max Weber, der Ursprung des frühkapitalistischen Arbeitsfetisch sei in der protestantischen Leistungsethik zu finden. Diese besagt: Bloß nicht zu viel schlafen, leben, lieben und so außer in der Missionarsstellung. Manchmal.
Arbeit als Ausdruck der Askese. Das wird dann schließlich zum Leitmotiv der Entwicklung des Kapitalismus. Das ist ja schön.
Diese Vorstellung der Arbeitsmoral, des guten Menschen und Bürgers, ist also eindeutig ein Produkt des Frühkapitalismus. Man muss sich seine Existenzberechtigung erst erarbeiten. Faulheit und Nichtstun? Geht ja mal gar nicht.
Also wenn ich das so betrachte ist die Sache klar: kapitalistische Fehlzündung. Spricht ganz und gar gegen meine Anschauung.
Jeden Morgen sehe ich Mama Kapitalismus mit der Effizienzpeitsche neben meinem Bett stehen und mir einen guten Morgen Gruß ins Ohr hauchen. Aber ich habe keine Angst mehr vor ihr, die soll jetzt jemand anderen heimsuchen. Der Wecker war heute aus.
Titelfoto: Pixabay
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