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  • Wenn’s einfach wär, würd’s jede*r machen

    Lateinlehre habe mehr zu bieten als tote Grammatik und Lehrer*innenklischees, dachte Kolumnistin Sophia und muss sich korrigieren.

    Ich habe mal Latein studiert. Sprache, das hat mich fasziniert. Als ich mich immatrikuliert hatte, reagierten die meisten Menschen sehr ungläubig. Offenbar hatten viele von ihnen albtraumhafte Erfahrungen im Lateinunterricht gemacht und meine Fächerwahl fürs Lehramt kam ihnen vor wie freiwillige Selbstqual.

    „Neeein, Latein ist ein tolles Fach! Ich wünsche mir, dass mehr Schüler*innen vom eingestaubten Bild der Sprache loskommen und ihre Logik und Schönheit erkennen“, verteidigte ich die Lingua Latina regelmäßig.
    Ich war bereit, für den Ruf der Sprache und der Lehre zu kämpfen.

    Ich schlenderte dann (zum Glück hatte ich nicht das Montagsseminar um 7:30 Uhr erwischt) ins Geisteswissenschaftliche Zentrum und nahm in einem verglasten Seminarraum Platz. In den Regalen reihten sich sortierte Bücher mit Kriegseuphemismen, an den Tischen reihten sich stramm sitzende Studierende mit gezückten Kugelschreibern. Der Professor betrat den Raum, nickte in die Runde, Kugelschreiber wurden aufgeklickt. Ich beeilte mich, ein Notizheft aus meinem Rucksack zu ziehen und schaute auf. Ein brummendes Geräusch hatte mich irritiert: der Polylux. Mein Dozent pustete den Staub von seiner Overheadprojektorfolie und meine Kommiliton*innen begannen wie wild den Inhalt abzupinseln. Meine Irritation kostete mich so viel Zeit, dass ich nun deutlich zurückhing und noch mit der Überschrift beschäftigt war, während links neben mir schon eine erste Übersetzung eingefordert wurde.  90 Minuten pure Anspannung. Ich habe die Sätze auf der Folie abgezählt, um schon heimlich vorzuübersetzen. Ich! Ich habe mich gefreut, wenn ich alles von der Folie in mein Heft leserlich abschreiben konnte. Ich! Ich habe ein Highfive ausgeteilt, wenn es hieß, es gebe heute keine Hausaufgaben. Ich!!

    In meiner ersten Klausur der klassischen Philologie saß ich in der letzten Reihe. Meine Straßenbahn war genau pünktlich angekommen und ich hatte dennoch den allerletzten Platz erwischt. (Wann sind die anderen aufgestanden?) Als mein Professor einen Moment nicht hinter mir hin – und herbeaufsichtigte, nutze ich die Chance, eine Kommilitonin nach Aufgabe eins c durch den Mundwinkel zu fragen. Sie sah mich fragend an. „Eins c, hast du die Lösung?“, zischte ich ihr zu. Sie legte die Stirn in Falten, sah sich panisch um und floh nach vorne, um ihre Klausur abzugeben. Sie hat nie wieder mit mir gesprochen.

    Irgendwann im zweiten Semester (ich hatte die Klausur auch ohne Aufgabe eins c bestanden) ließ ich mich dazu überreden, das Tutorium für die lateinische Grammatik zu besuchen. Ich wollte mein Zusammentreffen mit dem Polylux eigentlich auf einmal die Woche beschränken. Ich traf auf einen Mitte zwanzigjährigen Tutor in der zweiten Hälfte des Studiums. Ich nahm Platz und wurde sogleich wieder aufgeschreckt. „Aufstehen!“, rief der. „Wer die richtige Antwort kennt, darf sich setzen.“ Alle im Raum gehorchten.
    Die Tür zum Seminarraum ging auf und ein verspäteter Student betrat den Raum: „Hallo…“ „Das heißt nicht ‚Hallo‘, das heißt ‚Entschuldigung‘“, donnerte der Kursleiter.
    Ich verließ den Raum.

    Omnes discipuli vituperandi sunt: Alle Schüler müssen getadelt werden. Ich habe mich den Rest des Semesters noch durch das Gerundivum des Müssens gequält. „Neeein, Latein ist eine tolle Sprache! Eingestaubt? Ach was!“

    Kolumnistin Sophia liest lieber Gedichte als Geschichten über kämpfende Männer.

    Ich muss meinen Anspruch des Staubwischens revidieren. Wie kann ich hinter einem Studium stehen, in dem ich angebrüllt werde, Hausaufgaben mache, Entspannungsmantras auf dem Fahrrad singe und „Aber es hätte zu weit geführt, alle Schüler zu bestrafen“ ins Lateinische übersetze?

    Das kann ich überhaupt nicht. Und ich weiß jetzt auch, wie das Bild der klassischen Philologie, das so viele Menschen haben, entstanden ist und bestätigt wird. Sicherlich hätte ich mehr Fleiß, mehr Vorbereitung und mehr Hingabe aufbringen können. Aber dafür hätte ich meine Lebenseinstellungen und mein Privatleben über Bord werfen müssen und dazu war ich nicht bereit.

    Wer kann so Lateinlehrer*in werden? Ich habe mal einen Studenten gefragt, nachdem ich mich von meinem Studium verabschiedet hatte. „Weißt du, wir sind hier alle überfordert. Aber wenn’s einfach wär, würd’s jeder machen“, hat er gesagt.

    Respekt. Respekt an alle, die es schaffen Latein zu studieren. Respekt an alle, die sich nicht entmutigen lassen. Respekt an alle, die so sicher mit Sprache umgehen können. Die Latein lesen können und es verstehen, ohne erst das Prädikat zu suchen.

    Ich kann es nicht. Und ich verbleibe mit der großen Sorge, dass am Ende nur die Lehrer*innen übrigbleiben, die genau so eine Lehre weitertragen, wie ich sie erlebt habe. So wird Latein nicht entstaubt. Und so werden auch nicht so dringend gesuchte Lehrer*innen gewonnen.

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