Im freien Fall
Kolumnistin Theresa begriff vergangenen Sommer, dass etwas in ihrem Leben gehörig schiefläuft. Nicht zuletzt, weil ihre Haare sie darauf hinwiesen.
Ich stand im September in einem Hotelzimmer in Florenz, eines der schöneren, mit Blick auf den Fluss. Mein Freund und ich wollten ausgehen, unser Einjähriges feiern, und ich wollte meine Haare zur Abwechslung mal wieder offen tragen. Vor dem Spiegel kämmte ich mir ungefähr 50 Haare vom Kopf. Ich schaute die Bürste an und fühlte mich hundeelend.
Seit Wochen fielen mir damals die Haare aus. Niemand wusste warum. Meine Blutwerte waren gut, meine Hormone eingestellt. „Haben Sie Stress?“, war eine Frage, mit denen meine Ärzt*innenbesuche endeten. Eigentlich hätten sie damit anfangen sollen. Über meinen Stress reden wollte nämlich niemand so richtig – falsches Zuständigkeitsgebiet. Überwiesen wurde ich allerdings auch nicht, eher vertröstet und um Geduld gebeten.
Mein Haarausfall ließ mich verzweifeln. Ich fasste meine Haare so gut wie nicht mehr an, versuchte sie so wenig wie möglich zu waschen und wenn ich es tat, weinte ich bitterlich. Ich bin eigentlich keine eitle Person, nur fühle ich mich gerne wie andere, vor allem junge Menschen, in der Kontrolle über mein Leben, mein Aussehen und meinen Körper. Jedes Haar, das ich in der Hand hielt oder morgens auf dem Kopfkissen fand, führte mir brachial vor Augen, dass ich hilflos war. Und dass die Illusion, die Macht über sich und das eigene Leben zu haben, zwangsweise zu schmerzvollen Verlusten führt.
Ich ging zu einer Psychologin. Und begann eine Therapie. Am Anfang zählte ich die körperlichen Symptome auf, die mich hierhergeführt hatten: Ich hatte jeden Morgen nach dem Aufwachen Herzrasen, das ich nicht beruhigen konnte. Eine immense Unruhe, die mich nicht losließ, ich weinte abends oft ohne zu wissen, warum. Alles – und ich meine damit alles – in meinem Leben fühlte sich zu schwer für mich an. Der Haarausfall war das symptomatische Ende einer langen Kette an Überschreitungen meiner persönlichen Grenzen gewesen.
Mittlerweile fallen meine Haare nicht mehr aus. Aber mein Leben fühlt sich immer noch nicht leichter an. Das ist ein Frust, mit dem man als Therapiepatient*in oft lernen muss, umzugehen. Ich fühle mich noch immer nicht belastbarer als vor einem halben Jahr. Der Grund dahinter ist, glaube ich, dass die Kraft, die mich meine Ängste und Depression gekostet haben, nun für meinen inneren Umbau gebraucht wird. Es fühlt sich alles falsch an: Dinge so wie immer zu machen (denn man lernt, warum einem das nicht gutgetan hat) ebenso, wie die Dinge neu und anders zu machen. Das Gewohnheitsgerüst ist noch zu fragil.
Und dennoch gibt es keine Alternative, als anders denken zu lernen. Meine Therapeutin fragte mich vor einigen Wochen, warum ich eigentlich hier bin, und ob ich schnell wieder belastbar werden will. Ich nickte. „Dann kann ich nichts für Sie tun“, antwortete sie. Meine Haare sind zwar wieder die alten. Aber ich habe noch einen weiten Weg vor mir.
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