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  • Politik an der Basis

    Marco Rietzschel arbeitet im Stadtbezirksbeirat Süd. Dort bilden er und seine Kolleg*innen das Fundament der Demokratie. luhze-Autor Paul Obermann hat Rietzschel bei seiner Arbeit begleitet.

    In einer Wohnung in der Südvorstadt schaltet Marco Rietzschel am Abend des 5. Mai seinen Laptop an. Nicht, um die letzten Stunden des Tages mit Netflix zu verbringen oder sich dem Youtube-Algorithmus hinzugeben. Sondern weil die Pflicht ruft. Spätestens um 18 Uhr muss er sich in Microsoft Teams einloggen, damit die Sitzung pünktlich beginnen kann. Seit Ende 2019, vorgeschlagen von der SPD und danach offiziell vom Stadtrat ernannt, vertritt Rietzschel als einzige Person die Sozialdemokrat*innen im Stadtbezirksbeirat Süd. Der Grund hierfür: Die Sitzverteilung in den Stadtbezirksbeiräten gliedert sich nach den Ergebnissen der Stadtratswahl. Im Bezirk Süd erhielt die SPD 2019 zwölf Prozent der Stimmen, womit der Partei ein Platz im zugehörigen Stadtbezirksbeirat zusteht. Zusammen mit seinen derzeit zehn Kolleg*innen wird er in den kommenden zwei bis drei Stunden online über Themen beraten, die ausschließlich den Bezirk Süd betreffen. Von der Anbringung von Mülleimern im Wildpark über die Modernisierung einer Stadtteilbibliothek bis hin zur Sanierung einer Schule kann alles auf der Tagesordnung des kommunalpolitischen Gremiums landen. Zu den Sitzungen, die einmal pro Monat stattfinden, sind auch die Bürger*innen des Bezirks eingeladen, um ihre Anliegen zu schildern. Bisher bieten deutschlandweit nur die Städte Leipzig und Dresden diese Möglichkeit.
    Zurzeit spielt sich für den 24 Jahre alten Marco Rietzschel nahezu der gesamte Alltag in seiner WG ab. Meistens findet man ihn an seinem privaten Schreibtisch wieder, die blonden Haare zu einem Zopf nach hinten gebunden. Neben seiner Tätigkeit als Stadtbezirksbeirat kommen weitere Ehrenämter im Politikbereich hinzu, ein abermaliges Online-Semester in Politik- und Erziehungswissenschaften sowie eine Stelle als studentische Hilfskraft im Wahlkreisbüro der SPD-Bundestagsabgeordneten Daniela Kolbe. „Das sind sicherlich zeitintensive Angelegenheiten, die ich ohne ein gewisses Zeitmanagement nicht unter einen Hut bringen könnte“, gibt er selbst mit einem leichten Schmunzeln zu.

    Ambitionen

    Wenn Rietzschel an seine berufliche Zukunft denkt, steht die Politik weiterhin im Mittelpunkt. Erst einmal möchte er bei der nächsten Stadtratswahl erneut kandidieren. Sogar ein Mandat auf Landes- oder Bundesebene könnte er sich gut vorstellen. Nichtsdestotrotz fügt er mit nüchterner Stimme hinzu: „Ich finde, Politik hauptberuflich zu machen, ist immer nur Plan B, man braucht einen Plan A mit einem Abschluss und Beruf, zu dem man zurückkehren kann.“ Plan A heißt in Marco Rietzschels Fall, nach dem Studium in der politischen Bildungsarbeit Fuß zu fassen.
    Dass Marco Rietzschel politisch für den Bezirk Süd eintritt, der Stadtteile wie die Südvorstadt und Connewitz beherbergt, kommt nicht von ungefähr. In Leipzig geboren und aufgewachsen, war er zunächst Teil des Leipziger Jugendparlaments sowie von 2017 bis 2021 Vorstand der Jung­sozia­list*innen (Jusos) Leipzig. „Meine politische Arbeit betriebe ich bestimmt nicht in dem Maße, wäre ich nicht hier aufgewachsen und hätte ich mich nicht seit mehreren Jahren kommunalpolitisch engagiert“, erzählt Rietzschel. Seine politische Erfahrung merkt man ihm nach wenigen Momenten an: Ohne sich zu versprechen oder Unsicherheit zu zeigen, formuliert er seine Ansichten. Auch bezüglich der Relevanz des Stadtbezirksbeirats: „Solche Beteiligungskonzepte schaffen immer Trans­parenz, man wird als Anwoh­ner*in gehört. Entscheidungen, die anschließend vom Stadtrat getroffen werden, erfahren so mehr Akzeptanz vonseiten der Bürger*innen.“ Ein gewisser Stolz schwingt in Rietzschels Stimme mit, die Erklärung dafür folgt prompt: „Ich bin ein großer Verfechter davon, dass man mehr Mitbestimmung nach unten dele­giert. Gerade in Leipzig gelang das der Politik, indem sie den Stadtbezirksbeirat einführte.“

    Dreharbeiten

    Die ersten Tagesordnungspunkte der Maisitzung handelt die Vorsitzende in wenigen Minuten ab. Normalerweise wäre das Immanuel-Kant-Gymnasium in der Südvorstadt Sitzungsort. Marco Rietzschel, leger in ein rotes Hemd gekleidet, sieht konzentriert auf seine Webcam und scannt immer wieder aufmerksam den gesamten Bildschirm. Im Hintergrund sieht man statt Konzertpostern einen Videofilter, der einen mit Palmen bedeckten Strand am Meer zeigt. Nun, eine Viertelstunde nach Beginn der Sitzung, können die Anwohner*innen aus dem Bezirk Süd ihre Anliegen vorbringen. Heute bleibt es bei einer Frau, ihre Kamera lässt sie deaktiviert. Sie beschwert sich über einen mehrtägigen Filmdreh in der Südvorstadt. Dieser führte unter anderem dazu, dass aufgrund der Straßensperrung Bürger*innen beispielsweise ihren Ärzt*intermin verpassten. Die Anwohnerin wird zunehmend lauter, während sie von den erlebten Unannehmlichkeiten berichtet. Nach den Ausführungen meldet sich Rietzschel als Erste*r aus dem Beirat zu Wort. Sein Vorschlag: das Ordnungsamt anfragen, wie regelmäßig solche Drehs vorkom­men. Während seines Redebei­trags stützt er mit der linken Hand sein Kinn und wechselt mitunter zur klassischen Denkerpose. Die restlichen Beirät*innen fangen an zu nicken, es folgen keine Gegenvorschläge. Mehr als die Verwaltung zu kontaktieren, können die Mitglieder des Stadtbezirksbeirats in diesem Fall nicht tun.
    Die Veranstaltung ist gut besucht. Insgesamt haben sich 18 Referent*innen und über 24 Gasthörer*innen zugeschaltet, um das Geschehen zu verfolgen. Das bestätigt auch die Beobachtung Rietzschels: „Das Angebot, sich an den Sitzungen zu beteiligen, wird in Süd rege genutzt.“ Im weiteren Verlauf bekommen externe Gäste das Wort.

    Häuser und Dörfer

    Zum Beispiel zwei Mitarbeiter*innen der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB), die über die Sanierungsstrategie der LWB im Süden der Stadt sprechen. Als der Abteilungsleiter für Objektmanagement darauf verweist, dass leerstehende Wohnungen in der Kochstraße nicht neu vermietet werden, da das Gebäude baufällig ist, verdreht Rietzschel kurz die Augen. Denn in dem anscheinend sanierungsbedürftigen Haus leben nach wie vor Menschen. Manchmal wandern seine Augen während der Debatte nach unten – möglicherweise, um auf Twitter die vergangene Stunde zusammenzufassen. Als Vertreter des SOS Kinderdorf Sachsen an der Reihe sind, fokussiert sich der SPD-Beirat erneut vollends auf die Sitzung. Die zwei Männer stellen den Zuhörer*innen ihr Vorhaben in Connewitz vor: der Bau eines neuen Kinderdorfs inklusive Kita, Familienzentrum und Wohngruppen. In den 20 Minuten erzählen beide mit funkelnden Augen vom geplanten Familiencafé, den Beratungsangeboten und Spielmöglichkeiten für die Kinder. Nach der Powerpoint-Präsentation schaltet Marco Rietzschel zum wiederholten Male sein Mikrofon an: „Wie sieht es mit der Fassaden- und Dachbegrünung im Rahmen der Bauplanung aus?“, fragt er. Obwohl sich weitere Beirät*innen aktiv an der Diskussion beteiligen, bleibt Rietzschel die einzige Person, die hinsichtlich der Nachhaltigkeit des Projekts nachhakt. Er selbst sagt: „Ich bringe als jüngster Beirat gewiss eine andere Perspektive mit in die Sitzungen ein und tatsächlich auch mehr Erfahrung. Denn dadurch, dass ich im Jugendparlament war, kenne ich viele kommunalpolitische Abläufe und auch Abkürzungen. Das hört sich vielleicht blöd an, aber in der Verwaltung wird eine ganz andere Sprache gesprochen.“

    Aufmerksamkeit

    Während der zweistündigen Veranstaltung bringt sich der SPD-Politiker zusammen mit einem Beirat der Linken am häufigsten in die Diskussionen ein. Bei Wortmeldungen spricht er, ohne seine Lautstärke zu verändern. Insgesamt geht der Abend reibungslos vonstatten. Es entstehen keine technischen Probleme, die Vorsitzende behält stets den Überblick über die Diskussionen sowie die Beiträge im Chat; die Stadtbezirksbeirät*innen fallen sich gegen­sei­tig nicht ins Wort und debat­tieren konsensbasiert. Die bindenden Entscheidungen trifft letztendlich der Leipziger Stadtrat, deswegen stehen nicht die Stadtbezirksbeiräte im Fokus der Öffentlichkeit. Auf die beschränkte politische Einflussnahme der Stadtbezirksbeiräte angesprochen, kneift Rietzschel die Augen zusammen, seine Mundwinkel bewegen sich nach unten. Er ist von der Bedeutsamkeit seiner Arbeit und der seiner Kolleg*innen überzeugt. „Ich habe den Eindruck, dass es in den letzten Jahren ein Umdenken bei der Stadtverwaltung gab. Vor allem die Perspektive, die wir aufgrund des Austauschs mit den Anwohner*innen zusätzlich einbringen, hat die Haltung gegenüber unserem Tun verändert“, sagt Rietzschel.

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