Europameister im Doppel der Moral
Kolumnist Dennis findet es nicht nachvollziehbar, dass sich alle an Ungarn abarbeiten, obwohl es beim Thema Gleichstellung hierzulande genügend Nachholbedarf gibt.
Liebe Leute, wir müssen reden. Über den Regenbogen und nein, ich meine nicht das Ding, das nach einem Regenschauer auftaucht und an dessen Ende CDU-Abgeordnete ihre Geldtöpfe aus dubiosen Maskendeals verstecken, sondern über die Pride-Flagge, das gängige Symbol für Diversität und über die Münchner Allianzarena. Letztere sollte eigentlich zum EM-Spiel Deutschland gegen Ungarn in den Farben ersterer strahlen, zumindest wollte das die Stadt München. Hintergrund: Ungarn hat ein umstrittenes Gesetz verabschiedet, das Homosexualität quasi aus dem Schullehrplan beziehungsweise. Materialien für Kinder wie Büchern und Filmen cancelt. Doch aus der Aktion wurde nichts, weil die UEFA keinen Bock hatte und gegen Gleichberechtigung ist.
Okay okay, auch wenn diese Lesart der mediale Tenor ist, so einfach ist die Sache dann doch nicht und auch wenn du als eingefleischter Clicktivist jetzt schon die erste Augenbraue hochziehst, lass es mich dir erklären.
Zunächst mal gibt es ein breites Empörungsspektrum: Unternehmen, Fußballclubs oder auch Politiker, die sonst eher die familienpolitische Gartenzwergenorm repräsentieren und plötzlich Advokat der Vielfalt und Toleranz sind. Der Feind dagegen ist Ungarn und natürlich die UEFA. Wie immer bei ideologisch aufgeladenen Konflikten – purer Dualismus. Doch die Problematik ist eben nicht so ganz Schwarz-Weiß.
Fangen wir mal mit Ungarn an. Die national-konservative Kleptrokratenregierung rund um Viktor Orbán ist schon eine ganze Weile an der Macht und baut den Kapartenstaat sukzessive in eine illiberale Demokratie um, während sie die Wertegemeinschaft EU eher als große Soli-Kasse ansieht, aus der sie sich großzügig bedienen. Doch seitens der EU passiert nicht so richtig viel, außer dass ab und an ein Zeigefinder Richtung Orbán geht Ehrliche Konsequenzen – Fehlanzeige. Aber das Tolle an der EU ist, dass sie eben nicht nur mit Geld auf ihre Mitgliedsstaaten wirft, sondern auch Pflichten einfordern kann, mittels Vertragsverletzungsverfahren! Den genauen juristischen Verlauf erspare ich euch jetzt, aber nur so viel: Dieses Gesetz ist höchstwahrscheinlich nicht mit EU-Recht kompatibel und das könnte eine Strafe für den ungarischen Staat nach sich ziehen. Zudem könnte die EU Orbán auch einfach den Geldhahn zudrehen – boom!
Doch was passiert stattdessen? Ungarische Fußballer kommen zu uns und werden für dieses Gesetz in Sippenhaft genommen und das ganze Spiel so politisiert, dass es irgendwie nicht mehr so wirklich um den Sport geht.
Nun zur UEFA. Der europäische Fußballverband präsentiert sich auf Social Media zwar ebenfalls gerne als Verteidiger der Toleranz, in dem er sein Profilbild bunt einfärbt. Aber wenn es dann mal um ein großes Zeichen gegen Toleranz geht, kneifen die Feiglinge. Oder? Oder??
Nun ja: jein. Okay klar ist es etwas inkonsequent, aber die UEFA ist einfach ehrlich. Ein europäischer Fußballverband ist eben keine NGO, die sich für Rechte anderer einsetzt, sondern ein wirtschaftlich orientiertes Unternehmen, das auch mit konservativen Ländern wie Polen, Ungarn und so weiter. irgendwie kooperieren muss, und hat daher wenig Bock, sich ohne Not mit diesen Ländern anzulegen auf einer Ebene, auf der die UEFA eben nicht spielt – der politischen.
Aber die anderen Unternehmen wie Burger King oder BMW, die sich auf Social Media im „Pride-Monat“ ebenfalls mit regenbogenfarbenen Profilbildchen oder Werbeanzeigen selbstbewusst politisch positionierten sind doch wenigstens aufrichtig und stehen durch die Bank weg zu diesen Werten, oder? Ja, in Deutschland und einigen westeuropäischen Ländern schon, aber die Internetauftritte der ungarischen oder russischen Niederlassungen sind erstaunlich farblos geblieben. Wie kommt das nur, ist die gesellschaftliche und juristische Gleichstellung dort schon vollzogen?
Na gut, auf die Unternehmen ist scheinbar doch kein Verlass, aber auf die zwei größten und bodenständigsten deutschen Institutionen muss doch konsequenter Verlass sein – die CDU und der FC Bayern München. „Weltoffenheit und Toleranz sind grundsätzliche Werte, für die unsere Gesellschaft steht und für die der FC Bayern steht“ verlautbarte der Präsident des Clubs und bedauerte mit großen Krokodilstränen das Ausbleiben der Regenbogenbeleuchtung. Und integre Unionspolitiker wie Markus Söder und Daniela Ludwig posen mit Regenbogenmaske oder -Binde. Und das wäre fast glaubhaft, wäre der FC Bayern nicht geschäftlich sehr eng mit dem reaktionären Emirat Qatar verbunden, in dem nicht mal heterosexuelle Menschen Menschenrechte genießen und hätten besagte Unionspolitiker nicht bis vor kurzem noch Orbán hofiert oder gegen so ziemlich jedes Gesetz gestimmt, das eine Gleichstellung homosexueller oder queerer Menschen bezweckte.
Und zu guter Letzt bist da noch du, der gebildete, progressive und tolerante Deutsche, der es richtig und wichtig findet, dem homophoben Ungar mal zu zeigen, wie Toleranz geht, und ihm auch gerne bei passender Gelegenheit eine Regenbogenfahne ins Gesicht hält, sich dabei moralisch aber sowas von überlegen fühlt und das für politischen Aktivismus hält. Der Flitzer während der Nationalhymne beim Spiel hat es ja vorgemacht.
Wow, was für eine Auswahl an Akteuren, oder? Da weiß man gar nicht, wen man zuerst doof finden soll. Und ganz so einfach ist die Causa dann doch nicht, oder?
So und jetzt mal Klartext! Die bunte Profilbildflut ist kein Bekenntnis zu Toleranz, sondern schlichtes Marketing (Pinkwashing) zugunsten der kaufkräftigsten Zielgruppe, wobei euch gegenüber eine Wertekonsens fingiert wird, den es nicht gibt, weil es den Unternehmen nicht um Werte geht, sondern um die kleinste Violine der Welt – Geld! Apropos Geld, darum geht es – und ich weiß, das ist jetzt ein Schock – auch beim Fußball. Genau deswegen wird die deutsche Elf nächstes Jahr bei 40 Grad im Schatten irgendwo in der Wüste von Qatar auftreten, ein Land, das mit Fußball so viel zu tun hat wie Engländer mit guten Elfmeterschüssen. Dort wird sich auch kein Manuel Neuer trauen, mit Pride-Binde aufzulaufen. Und bevor du dich an den Ungarn abarbeitest, kehre doch erstmal vor deiner eigenen Haustür, die definitiv nicht im tolerantesten Land auf den Planeten liegt oder anders gesagt, versuche mal als bekennender Homosexueller Blut zu spenden, was wiederum nicht geht, weil genau die oben benannte Partei derartige Maßnahmen seit Jahrzehnten konsequent blockiert und es nur Fortschritt gab, wenn sie von Gerichten gezwungen wurden. Dennoch sind sie sich nicht zu fies dafür, sich vor die Kamera zu stellen und so zu tun, als wären sie schon immer für Gleichberechtigung gewesen.
Und Orbán beeindruckt der ganze Zirkus überhaupt nicht. Er kann sich wunderbar als Verteidiger der nationalen Identität gegenüber der übergriffigen EU ein Jahr vor den Wahlen inszenieren. Aber das kümmert den Deutschen nicht, er applaudiert und wedelt mit den bunten Fähnchen und fühlt sich überlegen. Wenn es eine EM in Doppelmoral gebe – wir wären schon jetzt Meister.
Orbán, also nicht der Nationalspieler, war übrigens nicht im Stadion. Aber vielleicht findet sich ein Reisebus voller Aktivisten, die nach Budapest vor das Parlament fahren und Orbán so lange anbrüllen, bis er rauskommt und das neue Gesetzespapier vor ihnen zerreißt. Das wäre zwar auch nur ein symbolischer Akt, aber darauf steht ihr doch.
Foto: Pixabay
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