Glaubensfrage
Vor einigen Wochen ist die Diskussion um die Kanzel im Paulinum neu ausgebrochen. Warum kommt dieser Konflikt nicht zur Ruhe?
Fast genau 53 Jahre nach der Sprengung der Universitätskirche St. Pauli am 30. Mai 1968 leuchtet Passant*innen vom Boden des Augustusplatzes die Forderung entgegen: „#KeineKanzelInDieAula“. Einen Tag später wurde aus allen 29 Schriftzügen das erste K entfernt.
Der kleine Buchstabe ist Ausdruck eines lange zurückreichenden und sehr emotional geführten Konflikts. Schon seit seiner Gründung 1992 fordert der Paulinerverein Leipzig die Rückführung aller Kunstschätze, die aus der historischen Universitätskirche vor der Sprengung gerettet wurden. Mit vielen Kunstobjekten wie dem Altar und den Epitaphien ist das bereits passiert, nur die barocke Kanzel liegt noch immer in der Kustodie.
Genauso lange stellen sich weltliche Stimmen, insbesondere die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) Leipzig, „Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung“, gegen den Einbau: Dieser würde den säkularen Charakter des sowohl als Kirche als auch als Aula genutzten Paulinums zerstören, besonders da die Kanzel im Aula-Teil des Gebäudes installiert werden soll, der vom Andachtsraum durch eine Glaswand abgetrennt ist.
So klar sei die Trennung aber gar nicht, gibt Universitätsprediger Frank Michael Lütze zu bedenken. „Die Sprühaktion beruht aus meiner Sicht auf einem Kategorienfehler, der davon ausgeht, das Gebäude würde durch die Glaswand getrennt. Aber so ist das Konzept nicht gemeint.“ Es handele sich eher um eine zeitliche Trennung. „Wenn die Uni hier einen Kongress veranstaltet, ist der ganze Raum Aula, und sonntagmorgens zum Gottesdienst ist der ganze Raum Kirche. Insofern wird der Satz durch das Radieren nicht sinnvoller“, sagt Lütze. Die Doppelnutzung zeigt sich auch am offiziellen Namen, um den ebenfalls viel gerungen wurde: „Paulinum – Aula und Universitätskirche St. Pauli“.
Kommission
Der religiöse oder säkulare Charakter des Raums ist aber nicht der einzige Streitpunkt. Die Kanzel schränke auch die Sicht eines Teils des Publikums bei Veranstaltungen ein. Außerdem ergab ein dreisemestriges Klimamonitoring, dass das zu trockene und schwankende Raumklima schwere Schäden an der Kanzel verursachen wird. Das schrieb die Universität 2019 in einer Pressemitteilung, nachdem der Senat fast einstimmig mit nur einer Enthaltung gegen die Aufstellung der Kanzel entschied. Die GBS und der Studierendenrat der Universität (Stura) begrüßten den Beschluss des Senats.
Er geschah jedoch gegen die Empfehlung der Kanzelkommission, die sich 2015 mehrheitlich für eine Aufstellung aussprach, allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass das Klimamonitoring positiv ausfällt. Die vom Sächsischen Staatsministerium für Finanzen (SMF) 2013 einberufene Kommission bestand unter anderem aus Vertreter*innen des Rektorats, des Stura, der Kustodie, der Theologischen Fakultät, des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kultur (SMWK) und des SMF.
Kompromiss
Als Reaktion auf die Senatsentscheidung schrieb der damalige Universitätsprediger Peter Zimmerling einen offenen Brief an Rektorin Beate Schücking, in dem er den Einbau der Kanzel forderte und unter anderem kritisierte, dass er in der entscheidenden Senatssitzung nicht angehört worden sei. Schon 2014 hatte er die historische Kanzel als Ort seiner Predigt reklamiert, was auch der Fakultätsrat der Theologischen Fakultät befürwortet hatte. Zu seiner Unterstützung gründete die Stiftung „Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig“ im September 2019 die Bürgerinitiative „Wort halten“ und startete eine Online-Petition für den Einbau mit inzwischen knapp über 2.000 Unterzeichner*innen.
Der Name „Wort halten“ bezieht sich auf den 2008 unter Vermittlung der damaligen Generalbundesanwältin Monika Harms geschlossenen Harms-Kompromiss. Auf diesen beruft sich die Bürgerinitiative, denn es heißt darin unter anderem: „Es besteht Einigkeit darüber, die vor der Sprengung geretteten Teile der Universitätskirche nach ihrer Restaurierung an den historischen Ort zurückzubringen.“ Der Kompromiss betont aber auch, „dass die Entscheidungskompetenz rechtlich dem Bauherrn im Einvernehmen mit der Universität zusteht.“ Der Bauherr ist in diesem Fall der Freistaat Sachsen. Monika Harms wurde später selbst Mitglied von „Wort halten“.
Der Paulinerverein veröffentlichte in Reaktion auf den Kompromiss eine Pressemitteilung, aus deren ursprünglicher Version drei Sätze „aufgrund einer von der Universität Leipzig geforderten Unterlassung entfernt wurden“. Zu dem Inhalt dieser Sätze und dem Grund der Unterlassungsforderung wollte die Universität sich auf Anfrage von luhze nicht äußern. Auch der Paulinerverein ließ bis Redaktionsschluss alle Anfragen unbeantwortet.
Im November 2019 stellte der studentische Senator Benedikt Bierbaum einen Antrag im Senat, das SMWK aufzufordern, den Beschluss gegen die Kanzel rechtlich zu prüfen. Der Antrag wurde ohne inhaltliche Auseinandersetzung wieder von der Tagesordnung genommen. „Wort halten“ schrieb daraufhin selbst ans Ministerium und warf dem Senat vor, seine Kompetenzen überschritten zu haben.
„Der Senatsbeschluss ist ein deutliches Votum, was aber den Konflikt nicht löst“, schreibt das Ministerium dazu auf Anfrage von luhze. „Er wurde rechtlich überprüft und gegenüber dem Rektorat beanstandet. Danach ist nicht der Senat, sondern das Rektorat für Entscheidungen über die Kanzel zuständig.“ Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow ist ebenfalls Mitglied von „Wort halten“, genauso wie David Timm, Direktor der Universitätsmusik.
Carsten Heckmann, Pressesprecher der Universität, bestätigt allerdings den Senatsbeschluss: „Die Senatsmitglieder haben sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Sie war angesichts der Ergebnisse des Klima-Monitorings aber folgerichtig und verantwortungsvoll. Daran hat sich nichts geändert.“
Auch laut Lütze ist der Senatsbeschluss „geltende Rechtslage“, lasse aber zwei Probleme ungelöst: „Das erste ist: Wo bekommt die Kanzel einen würdigen Ort, an dem sie ihre Geschichte erzählen kann?“ Das zweite sei die Frage nach einem angemessenen Predigt- und Redeort sowohl für den Universitätsgottesdienst als auch für akademische Veranstaltungen.
Seit Mai 2020 veröffentlicht die Bürgerinitiative Statements von Unterstützern der Petition, darunter auch eins von Benedikt Bierbaum. Das jüngste dieser Statements des Dresdner Restaurators Jochen Flade ließ nun im Mai den Konflikt wieder hochkochen. Flade schreibt unter anderem: „Mit der unbegreifbaren Ablehnung, die Kanzel aufzubauen, vergeht sich die derzeitige Uni-Leitung in höchst bedenklicher Weise an den damaligen Aufrechten!“ Mit den Aufrechten meint er alle, die gegen die Sprengung protestierten und deshalb Repressalien durch das SED-Regime erfuhren.
Es geht den Befürworter*innen also nicht nur um die religiöse, sondern auch um die historische Bedeutung. „In zwei Diktaturen war es ein Wesensmerkmal der Kanzel, ein freier Ort fürs freie Wort in unfreier Zeit zu sein“, heißt es im Text zur Petition. Die Anbringung sei nötig, um angemessen an das Unrecht der Sprengung zu erinnern.
Klima
Das Klimaargument ist für sie lediglich ein Vorwand, vor allem da Teile des Paulinums bereits klimatisiert werden. Daher fordert die Petition auch eine Fortführung des KlimaMonitorings „unter probeweiser Anbringung von Teilen“ der Kanzel. Laut der Kustodie ist sie aber trotz teilweiser Restaurierung noch nicht nutzbar. Beispielweise die Treppe ist nicht erhalten und müsste komplett neu konstruiert werden.
„Aus meiner Sicht wäre es das Beste, den Konflikt erstmal ruhen zu lassen“, so Lütze weiter. „Wir haben im Moment andere Fragen, die vordrängend sind.“ Dazu gehöre neben der Rückkehr zur Präsenz nach der Pandemie und Fragen der Beleuchtung des Paulinums vor allem die weitere Ausgestaltung der Beziehung zwischen den beiden Nutzungen des Raums. „Der Universitätsgottesdienst ist nicht einfach eine Raumkapsel, die geschlossen durch den Orbit der Uni schwebt“, sagt Lütze.
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