Nie zu spät
Kolumnistin Charlotte schreibt darüber, dass es ok ist, nicht die politisch aktivste Person zu sein. Und darüber, dass es trotzdem nie zu spät ist, damit anzufangen.
In der vierten und fünften Klasse hatte ich ein Abonnement der Zeitschrift „Tierfreund“. Die zwei Seiten in der Mitte konnte man rausreißen und als Poster aufhängen. Das Motiv war eigentlich immer ein Tier. Zu dieser Zeit schmückten viele Pumas und Delphine die Wände meines Kinderzimmers. Ansonsten gab es im „Tierfreund“ auch wissenswerte Textpassagen über Natur und Umwelt. In einer Ausgabe ging es um den Regenwald und darum, dass er für uns Menschen extrem wichtig ist. Da stand, dass Bäume CO2 aus der Luft filtern und wieder in Sauerstoff umwandeln, den wir zum Leben brauchen. Weil der Regenwald so groß ist, leistet er einen besonders großen Anteil an diesem Sauerstoff-Umwandeln. Und dann stand da, dass Menschen den Regenwald kontinuierlich abholzen und dass wir quasi, wenn damit nicht aufgehört wird, früher oder später ersticken.
Noch heute erinnere mich an meinen absonderlich großen Schock über diese Erkenntnis. Und an meine Wut auf die menschliche Bevölkerung. Um das beklemmende Gefühl loszuwerden, beschloss ich Angela Merkel – gerade frisch gewählte Bundeskanzlerin – einen Brief zu schreiben. Darin wollte ich ihr all meine Gedanken offenbaren, sie an meinen Ängsten teilhaben lassen und sie mit voller Willenskraft davon überzeugen, etwas gegen die Abholzung des Regenwaldes zu tun. Den Brief schrieb ich nie.
Damit begann die Laufbahn meiner politischen Ignoranz. Mit dem Beginn meines Studiums 2014 lernte ich liebe und gute Menschen kennen, die zu Freund*innen wurden. Während sie sich nach und nach politisierten, blieb ich passiv. Sie fingen an, beim neu gegründeten Bündnis „Ende Gelände“ aktiv zu werden und sich für den Braunkohleausstieg einzusetzen. Wenn sie mir von den Aktionen erzählten, ließ mich das kalt. Mein Kopf dachte sich zwar: „Ja is ne gute Sache. Unterstütze ich.“ Aber um mir das selbst zu glauben, war mein Pessimismus zu omnipräsent. Für eine gesellschaftliche Veränderung tat ich lange genau das, was man Menschen vorwirft, die nicht wählen gehen: nichts.
Im August 2018 setzte sich eine mutige und willensstarke junge Frau vor den schwedischen Reichstag. In der Hand hielt sie ein Schild mit der Beschriftung „Skolstreijk för klimatet“ – „Schulstreik fürs Klima“. Aus diesem Streik entwickelte sich in den darauffolgenden Monaten die Fridays-for-Future-Bewegung (FFF). Auch ich bekam davon mit: vor dem Smartphone, in sicherer Gesellschaft mit mir selbst. Aber ich bekam es mit.
Ein Jahr nach Gretas erstem Streiktag ließ ich mich von meinen Freund*innen aus dem ersten Semester zum Klimacamp in Pödelwitz mitnehmen. Das Camp wurde von engagierten Menschen ins Leben gerufen, um die Umsiedlung des Dorfes zu verhindern. Pödelwitz sollte zugunsten der Mitteldeutschen Braunkohlegesellschaft (MIBRAG) abgebaggert werden. Auf dem Camp nahm ich an Bildungsworkshops zu alternativen Kraftstoffen für die Luftfahrt teil, genoss die vegane KüfA (Küche für Alle), erlebte ein achtsames Miteinander und führte anregende Gespräche. Noch fühlte ich mich etwas unsicher unter den Menschen, die ganz klar wussten, was sie von der Politik einzufordern hatten. Aber ich fing langsam an, mich in dem großen Spektrum der Meinungen zu positionieren.
Es gibt verschiedene Gründe, weshalb man damit beginnt, sich zu engagieren. Ich hatte Glück und lernte zur richtigen Zeit Menschen kennen, die es nie müde wurden, mich mit einzubeziehen. Mittlerweile bin ich selbst Teil des Orga-Teams für das KClela (Klimacamp Leipziger Land). Und was soll ich sagen? Ich bin immer noch unsicher. Zum Beispiel, ob ich wirklich für immer auf tierische Produkte verzichten möchte oder ob ich mir nicht doch noch einmal einen Langstreckenflug leisten sollte. Und ob die Menschen wirklich mal damit aufhören, diesen Regenwald abzuholzen. Worin ich mir aber sicher bin, ist, dass wir etwas bewegen können. Etwa wie im Fall Pödelwitz, das letztlich nicht abgebaggert wurde.
Vielleicht bin ich etwas too late to the party, aber diese Party lohnt sich, egal wann man hingeht. Es gibt noch viele Baustellen, also kommt auch vorbei.
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