• Menü
  • Leipzig
  • „Wir müssen uns daran orientieren, was wir zum Leben brauchen“

    Im Vorfeld der Bundestagswahl interviewen wir die Leipziger Direktkandidierenden aller im Bundestag vertretenen Parteien. Nina Treu tritt im Leipziger Norden für die Linkspartei an.

    Nina Treu ist Aktivistin und war Ökonomin am Leipziger Institut für Neue Ökonomie. Sie tritt im nördlichen Wahlkreis Leipzigs für die Linkspartei als Direktkandidatin an. Mit luhze-Redakteur Jonas Waack hat sie über die Transformation der Wirtschaft, Schulden und Oppositons- und Regierungsarbeit gesprochen.

    luhze: Frau Treu, warum wollen Sie in den Bundestag?

    Treu: Ich kämpfe für Klimagerechtigkeit und eine soziale, ökologische und demokratische Wirtschaft. Da müssen wir stärker, größer und mehr werden. Im Bundestag sind zu Wenige, die Klimagerechtigkeit so radikal und tiefgreifend bespielen, wie ich das tue. Die Grünen mit ihrem Mainstream-Kurs biedern sich den Konservativen stark an und fahren einen Kurs von wegen „wir bauen Deutschland um, aber wir ändern nichts am Industriestaat Deutschland“. Meine These ist, dass es viel zu ressourcen- und emissionsintensiv ist, unsere energieintensive Industrie aufrechterhalten zu können. Das heißt, wir brauchen einen Umbau, der auf eine ganz andere Struktur der Wirtschaft setzt.

    Sie sind für eine „unmittelbare Reduzierung aller Treibhausgase“ und meinten eben, dass Wirtschaft und Industrie anders funktionieren müssen. Wie?

    Ich hab da kein Patentrezept. Es ist ein großes Problem, dass wir nicht genau wissen, wie wir die Wirtschaft umbauen sollen. Es gibt natürlich ganz viele CO2-intensive Sektoren, die rückgebaut werden müssen. An der Kohleindustrie sind wir schon dran, der Ausstieg muss viel schneller geschehen als 2038. Wir müssen aber auch die Rüstungsindustrie massiv zurückbauen – die ist ja nicht nur aus der Klimaperspektive sehr schädlich. Und wir müssen für die in Deutschland sehr, sehr wichtige Autoindustrie Pfade entwickeln. Wir müssen über eine Mobilitätswende sprechen: Wie kommen Leute von A nach B? Wie haben Leute ein gutes Leben, wo sie das Gefühl haben, sie sind frei unterwegs und können dem nachgehen, was sie wollen?. Mein Anliegen ist vor allem, anzuerkennen, dass wir massiv reduzieren müssen, und dann möglichst schnell Maßnahmen zu entwickeln. Aber in der Größe gibt es die noch nicht.

    Sie sind Ökonomin und in der Degrowth-Denkschule verankert. Das Nicht-Wachsen der Wirtschaft hat noch kein Mensch absichtlich herbeigeführt. Wie stellen Sie sich das vor? Wie bezahlen wir diese sozial-ökologische Wende überhaupt?

    Die sozial-ökologische Wende könnten wir mit den Vermögen, die es in Deutschland gibt, auf jeden Fall bezahlen. Die sind nur gerade alle in privater Hand. Da hat die Linke ganz klare Konzepte: Vermögensabgabe, Vermögenssteuer, höhere Erbschaftssteuer An den Top-Ein-Prozent führt dieser Reichtum auch nicht mehr zur Steigerung des Wohlbefindens, sondern es sind irgendwelche Produkte, irgendwelche Nullen auf irgendwelchen Konten. Man würde den Menschen gar nichts ihrer Lebensqualität nehmen.

    Das Zweite ist das mit dem Ausprobieren. Ulrike Hermann, die Taz-Journalistin, bringt das Beispiel der britischen Kriegswirtschaft. Damals gab es eine privatwirtschaftlich organisierte Wirtschaft, die aber planwirtschaftliche Elemente hatte, den ganzen Krieg lang. Da gab es Rationierungen und Planungen, was produziert werden muss, und dann wurde das verteilt. Dem großen Teil der Bevölkerung ging es dadurch besser, die hatten endlich genug zum Leben. Wir müssen uns daran orientieren, was wir zum Leben brauchen, um uns in der Produktion darauf zu fokussieren und die Teile der Industrie, mit den Mitteln, die wir haben, langsam umzubauen. Ich glaube, wenn wir uns daran ausrichten, dass die Wirtschaft nicht auf Profit ausgerichtet ist, sondern auf die Produktion von lebensnotwendigen Gütern, haben wir total viel Spielraum.

    Beinhaltet der Wandel das Aufnehmen von Schulden?

    Auf jeden Fall, ja. Jede große Volkswirtschaft funktioniert aufgrund von Schulden.

    Schulden werden oft mit neuen Schulden refinanziert und die Zinssätze sind häufig mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) verbunden. Wenn das BIP im Verlaufe der sozio-ökologischen Transformation schrumpft, werden die Schulden auch teurer. Wie würde der deutsche Staat damit umgehen?

    Gerade zirkuliert unglaublich viel Vermögen, das Anlagemöglichkeiten sucht. Und Deutschland ist eine der stabilsten Volkswirtschaften der Welt, nach Staatsanleihen und Investitionen wird sich hier gerissen. Anleger*innen auf den Märkten wissen, dass der Klimawandel kommt, und dass – wenn wir nicht umdenken und umplanen – wir viel größere Probleme haben werden, weil die ganzen Volkswirtschaften zusammenbrechen werden. Nach den Flutkatastrophen im Westen ganze Dörfer wieder aufzubauen, ist ja viel teurer, als in Klimaschutz zu investieren und vorzusorgen.

    Sie befürworten „Investitionen über Ländergrenzen hinweg“ für den Klimaschutz. Besonders aus dem globalen Süden gibt es häufig den Vorwurf des Neokolonialismus, also dass Gelder in diese Länder fließen, aber an Auflagen geknüpft sind, die sehr paternalistisch wirken und es oft sind. Wie macht man globale Klimagerechtigkeit aus Deutschland?

    Prinzipiell ist es so, dass der globale Norden seinen Wohlstand aufgrund von Kolonialismus erwirtschaftet hat. Das heißt, im Sinne historischer Schuld und Klimaschuld müssten wir erstmal eine globale Klimakompensation machen: Zahlungen, die dem gerecht werden, dass wir so viele CO2-Emissionen haben konnten, weil wir anderen Ländern Ressourcen entzogen haben. Das Zweite ist, wirklich zu finanzieren, was Länder des globalen Südens brauchen. Die Länder haben genügend Studien und Menschen vor Ort, die entwickeln, was gebraucht wird. Der Norden muss anerkennen, dass wir unsere Lebensweise komplett ändern und den Ausbau von klimafreundlicher Technologie im globalen Süden unterstützen müssen, anstatt die Emissionen auszulagern, weil wir so die Bemühungen woanders wieder zunichtemachen.

    Nahaufnahme von Nina Treu mit dem Kanal und Bäumen im Hintergrund

    Nina Treu fordert für Klimagerechtigkeit einen Umbau der Wirtschaft.

    Für viele Studierende, die auf Bafög angewiesen sind, ist es zu niedrig, unflexibel, bürokratisch. Was ist Ihr Plan, um Menschen aus einkommensschwächeren Familien das Studieren mit allem Drum und Dran, also auch außeruniversitärem Engagement, zu ermöglichen?

    Es wurde so viel verschlechtert in den letzten Jahren und Jahrzehnten, dass es schwierig ist, das mit einzelnen, punktuellen Maßnahmen wieder auszugleichen. Überhaupt die Umstellung auf das Bachelor-Master-System, die Reduzierung der Regelstudienzeit, die Anpassung der Förderung an diesen Druck sind schon fatale Fehler. Man müsste die Studienzeiten wieder auflockern und die Studienordnungen entlasten. Dann soll natürlich das Bafög erhöht werden. Und auf jeden Fall eine Entbürokratisierung.

    Auch in Leipzig wird das Wohnen zu einem empfindlichen finanziellen Faktor für Studierende. Sie fordern, dass Kommunen und Genossenschaften mehr Wohnraum kaufen und bauen sollen. Woher kommt das Geld dafür?

    Da sind wir bei dem Dilemma, das wir vorhin hatten: Dass Länder und Kommunen ausgetrocknet werden und der Bund zu wenig reinholt. Generell könnte das Geld dadurch kommen, dass wir höhere Steuereinnahmen erzielen. Eigentlich ist es ja möglich, guten Wohnraum zur Verfügung zu stellen, weil Leute Miete zahlen. Das Problem sind Investitionskosten dann, wenn die Stadt sagt, sie nimmt keine Schulden auf. Dass die Wohnungen teurer werden, hat nur damit zu tun, dass Investor*innen versuchen, Geld herauszuziehen. Wenn es keine Deckelungen gibt, wie teuer Wohnraum vermietet werden kann, haben oft Hedgefonds und große Unternehmen den Vorzug.

    Wollen Sie eigentlich regieren?

    Natürlich sollten wir eine linke Regierung haben. Wenn es eine rot-rot-grüne oder grün-rot-rote Regierung gäbe, wäre das viel besser für die ganzen Ziele, die ich habe, und die die Linkspartei hat, und fürs Klima. Ich glaube aber, dass das gesellschaftliche Klima gerade gar nicht nach Grün-Rot-Rot ausschaut. Deswegen bin ich eher eingestellt darauf, dass wir die Arbeit, die wir machen, stärker durch Opposition und soziale Bewegung einbringen müssen.

    Die Linke war in den letzten vier Jahren die zweitgrößte Oppositionspartei im Bundestag. Dort hat sich allerdings eher auf Druck von Fridays For Future irgendetwas geändert als auf Druck der Linkspartei. Warum glauben Sie, dass das in den nächsten vier Jahren anders wird?

    Ich glaube nicht, dass die Linke für das gesellschaftliche Klima verantwortlich ist. Ich würde darauf setzen, dass sich dieses Klima wegen sozialen Bewegungen verändert – und wegen den Vorkommnissen. Wir werden weiter Dürren, Brände, Flutkatastrophen haben. Klima ist in aller Munde. Ich kann dann nur hoffen, dass die Linke es schafft, Klimagerechtigkeit groß auf ihrer Agenda zu haben.

    Dietmar Bartsch, Co-Spitzenkandidat Ihrer Partei, hat sich kürzlich im ARD-Sommerinterview nicht zwischen dem demokratisch gewählten Joe Biden und dem Autokraten Wladimir Putin entscheiden wollen. Es gilt als Binsenweisheit, dass die Linke ihre schwachen Umfrageergebnisse vor allem der Außenpolitik zu verdanken hat, mit der sich viele nicht anfreunden können. Frustriert Sie das?

    In meinem politischen Umfeld wird extrem wenig über Außenpolitik gesprochen. Die Leute haben da eher ganz reale Probleme in ihrem Leben: Was für einen Job habe ich, wie sind die Bedingungen, wie viel Miete zahl ich, wie viel Rente bekomme ich, wo gehen meine Kinder zur Schule, oder sie sorgen sich um die Zukunft auf einer ökologischen Ebene, statt über das Problem zwischen Russland und den USA nachzudenken. Ich will damit nicht sagen, dass Außenpolitik nicht wichtig ist. Aber ich glaube, dass diese Kontroverse medial hochgepusht wird, um zu sagen, dass es daran immer scheitert. Wenn es einen Willen gäbe von der Spitze und der Basis, auf eine rot-rot-grüne Regierung hinzuarbeiten, könnte man auf jeden Fall Lösungen finden. Es ist ja nicht so, dass die Linke sagt: „Hier sind unsere rote Linien und wir bewegen uns keinen Schritt.“

    Die Linke fordert das Abschaffen der Nato, die Grünen und die SPD sind vehement dagegen. Das wäre eine rote Linie.

    Aber wir haben es noch nie in Koalitionsverhandlungen besprochen. Die meisten Sachen werden nicht in den nächsten vier Jahren entschieden; was mit der Nato passiert, könnte man verhandeln.

    Viele Klimawissenschaftler*innen sind sich einig, dass die nächste Legislaturperiode die letzte ist, in der Maßnahmen geschaffen werden können, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Sollte da die Linke außenpolitische Fragen nicht außen vor lassen und ganz aktiv auf Grüne und SPD zugehen, mit dem Angebot, mit ihnen zu koalieren?

    Die Linke ist die einzige Partei, die sagt, sie würde nur mit Grünen und SPD koalieren. Wir sind die, die seit Jahren sagen, wir würden auch regieren, dafür brauchen wir aber eine zugeneigte SPD und Grüne. Ich bin in der Spitzenpolitik in Berlin nicht dabei, aber ich würde sagen, dass die Angebote von der Linken da immer groß sind und waren. Dass es nie zu dem Moment kam, wo das wirklich verhandelt wurde, lag nicht an der Linken.

    Bilder: Martin Neuhof

     

    luhze hat alle Direktkandidierenden zweimal kontaktiert. Paula Piechotta, Peter Jess und Siegbert Droese haben uns keine oder nur verspätet Termine vorgeschlagen, weshalb mit ihnen keine Gespräche stattfinden konnten.

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    Politik an der Basis

    Marco Rietzschel arbeitet im Stadtbezirksbeirat Süd. Dort bilden er und seine Kolleg*innen das Fundament der Demokratie. luhze-Autor Paul Obermann hat Rietzschel bei seiner Arbeit begleitet.

    Reportage | 22. Juni 2021

    Jugend macht Politik

    Vom 22.03. bis zum 29.03. wird in Leipzig das Jugendparlament gewählt. Dem erst sechs Jahre alten Gremium ist die Anknüpfung an die Kommunalpolitik gelungen.

    Leipzig | 24. März 2021