600 km zum Glück
Sehnsüchtig erinnert sich Kolumnistin Adefunmi an ihre Reise auf dem Jakobsweg und schnürt sich dabei in Gedanken schon wieder die Schuhe für neue Abenteuer.
Auf blauem Grund prangen gelbe Streifen, die sich alle in einem Punkt vereinen. Alle Wege führen nach Rom, sagt man, oder auch nach Santiago, je nachdem wen man fragt. Egal wo in Europa, ich begegne ihr ständig, der Jakobsmuschel und jedes Mal weitet sich mein Herz und mich packt wieder die Sehnsucht, zurück zum Camino de Santiago. Sofort kehren meine Gedanken zum September 2019, als ich in den Zug nach Burgos stieg. Von dort sollte mein Weg gen Westen ans Ende der Welt starten – erst nach Santiago und weitere 100 Kilometer bis zum Kap Finisterre, einem der westlichsten Punkte Europas.
Es gibt viele Gründe, sich auf den Jakobsweg zu begeben und kilometerlang durch Spanien zu wandern. Manch eine*r erlebt eine Krise und erhofft sich, durchs Laufen Klarheit zu erlangen, andere*r hat ein christliches Motiv. Es kann eine besondere Form des Sightseeings Europas oder lediglich ein günstiger Wanderurlaub sein. Für mich? Ich wollte eine lange Strecke selbst zu Fuß bewältigen, ohne Hilfsmittel, der Erfolg nur von mir und meinem Körper abhängig. Hinzu kam, dass ich nach meinem Bachelor gar nicht mehr wusste, was ich mir von meinem Leben erwartete. Nur eins war klar: Weiterstudieren kann ich gerade nicht. Ohne konkrete Fragen, aber mit dem Wunsch nach einer intensiven Erfahrung, ging ich meine ersten Schritte, noch 500 Kilometer bis nach Santiago.
Während ich mir vor der Reise erhoffte, in der Einsamkeit Weisheit zu finden, wurde ich schnell enttäuscht. Meine Route auf dem Francés war die frequentierteste des Caminos und ich begegnete immer wieder neuen Menschen. Genau das machte, unerwarteterweise, die Reise letztlich so besonders für mich.
Wir alle, wir Wandernden, bleiben miteinander verbunden durch die besondere Erfahrung. Wir teilten uns abends obligatorisch den spanischen Rotwein, kochten gemeinsam Gerichte unserer Heimatländer, mit den wenigen Mitteln, die uns in den Herbergsküchen zur Verfügung standen. Kichernd lauschten wir den Schnarchenden und erlebten miteinander emotionale Zusammenbrüche. Wir teilten unsere Leben, Geheimnisse und Gefühle. Ich sprach über Dinge, die ich mir jahrelang selbst nicht eingestehen konnte. Und am nächsten Morgen gingen alle mehr oder weniger getrennt wieder ihren Weg. Wir fanden und trennten uns immer wieder und bei jedem Wiedersehen fielen wir uns in die Arme. Wir standen da und hielten uns fest. Glücklich, die Freund*innen nach gefühlten Ewigkeiten wiederzusehen.
Jeder Tag glich einer Achterbahnfahrt der Gefühle. Glücklich wie nie und dankbar für den leckersten Kaffee und schöne Aussichten. Verzweifelnd an den Blasen meiner Füße, denen es nicht besser gehen wollte. An manchen Tagen fragte ich mich nach fünf Kilometern, wie ich bloß die nächsten 20 noch schaffen sollte. Ich war konfrontiert mit meinen persönlichen Zweifeln und philosophierte mit Weggefährt*innen über die Vergänglichkeit des Seins und über Zeit. In unserer Jakobsweg- Blase verging die anders als in der „echten Welt“. Bei der Vielzahl an Emotionen und kleinen Abenteuern meinte man, innerhalb einer Woche wäre ein Monat vergangen und alles, was zuhause und vor der Reise passiert war, schien unendlich weit weg.
Um fünf kruscht die Erste im Schlafsaal, für sie geht es schon los. Spätestens um 8 ist Abflug, gestärkt durch den rituellen café con leche und tostados con marmelade beginnen die letzten 20 km bis nach Santiago. Ich bin nicht mehr allein, mit Landi, meiner Weggefährtin, mit der ich zusammen alleine sein kann und nie das Gefühl habe, etwas darstellen zu müssen, trete ich am frühen Nachmittag ein nach Santiago und uns überwältigen die Emotionen, dass die Reise bald vorbei sein wird.
So kitschig wie das klingt, ich durfte eine Gemeinschaft erleben, die von Freude und Liebe erfüllt war. Ging jeder doch den eigenen Weg. Dieses Gefühl nach Hause mitzunehmen, offen und ehrlich meinen Mitmenschen zu begegnen und alle meine Emotionen tief und wahrhaftig zu erleben, stellte sich als ganz andere Schwierigkeit heraus.
Ich sehe die Muschel und mir wird bewusst, dass ich mit der Pandemie und dem Stress des Masters dieses Gefühl verloren habe, ich es nicht mehr in meinem Alltag finde. Ich sehne mich zurück nach dem „Buen Camino“, spanisch für „Guten Weg“. Ich weiß nicht, ob es nochmal 600 km braucht, um dieses Gefühl wiederzufinden, vielleicht geht das zuhause auch gar nicht, weil ich nicht in einer Blase, abgeschnitten von der Welt, leben kann. Vielleicht muss ich mir dafür immer wieder die Wanderschuhe anbinden, aber es gibt wohl schlimmere Formen des Reisens.
Titelfoto: privat
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