Der Prototyp
Kolumnistin Hannah erfährt immer häufiger, wie der alte weiße Mann sich gegen diese Zuschreibung wehrt und ihr damit wunderbar gerecht wird.
Der alte weiße Mann begegnet einem überall, man liest in der Presse von ihm, im Theater geht es um ihn, sogar in politischen Debatten. Aber es gibt ihn wirklich. Nur möchte das echte Exemplar sich auf keinen Fall eingestehen, dass er einer ist.
Ich weiß, dass es ihn gibt, er begegnet mir im Theater, dort will er nicht den alten weißen Mann spielen. Er führt mit mir Bewerbungsgespräche, in denen er mich Püppi nennt, von Zeit zu Zeit sitzt er mit mir am Frühstückstisch. Und manchmal schreibt er auch Kolumnen.
Zum Beispiel im Zeitmagazin. Auf Seite elf. Ich lese sie immer wieder gerne. Sie erinnert mich nur leider auch daran, dass ich den Altersdurchschnitt in der Statistik der Zeitleser*innen gravierend nach unten ziehe. Aber es interessiert mich einfach zu sehr, welche Gedanken und Gefühle die karnivoren Konservativen um diese Zeit so herumtreibt. Momentan ist es: das Wohneigentum von Jens Spahn, Sorge vor dem veganen Kunststudenten, sowie Gedanken bezüglich der Altersvorsorge und die Vehemenz, gegen eine stereotypisierende Bezeichnung zu sein.
Ich ertrage meine Schicksale immer geduldig. Zum Beispiel, als mir heute Morgen mein Ohrring in den Abfluss rutsche. Ich stand so da und habe hinunter gesehen, die Nase gerümpft. Um es versucht zu haben, griff ich noch nach einem von diesen Abfluss-Reinigungsstäben, bohrte etwas im Abfluss und ließ es dann sein. Selbstverschuldete Tatsache, akzeptiertes Schicksal. Kann ich.
Nun gibt es aber einige unter uns, die alle Kriterien erfüllen, um die populär gewordene Bezeichnung des alten weißen Mannes zu tragen. Natürlich sind die äußeren Merkmale alt, weiß, hetero und cis-männlich einfach vorzuweisen. Aber eigentlich geht es um etwas anderes, und zwar darum, dass der alte weiße Mann ein Leben lang in einem patriarchalen System Machtpositionen und Privilegien im öffentlichen, politischen, wirtschaftlichen und privaten Leben erfahren konnte. Eben wegen der oben genannten Kriterien.
Wenn er nun nicht müde wird, sich ohne Unterlass über diese Bezeichnung zu beschweren, erfüllt er genau die Kriterien. Ups. Vielleicht beschwert er sich noch darüber, dass man heutzutage nichts mehr sagen kann und auch Frauen gar keine Komplimente mehr machen darf, für den tollen Ausschnitt und den knackigen Po -okay das hab ich jetzt gesagt- und das überhaupt alles, was man sagt sofort rechts sei. Wenn er besonders gut drauf ist, äußert er sich noch zum Thema Abtreibung und da ist er. Der Prototyp.
Aber wie soll man es anders wissen, wenn im Bundestag mehr als zweidrittel alte weiße Männer sitzen und Frauen in Führungspositionen, insbesondere in Digitalunternehmen, stark unterrepräsentiert sind? So bestimmt der männliche Blick und seine Einschätzung auch den Wert von Care-Arbeit und der von FLINTA* Personen verrichteten. Um nur bei der Arbeit zu bleiben. Es ist halt eine Sache der strukturellen Verteilung, von Macht und Privilegien. Das sitzt so fest wie die Männer auf ihren Plätzen und wird auch mit einer Bezeichnung so schnell nicht ins Wanken gebracht werden können.
Mann fühlt sich allerdings von dieser Spitze, die von der Bezeichnung alter weißer Mann ausgeht, mindestens so angegriffen wie vom Gendern oder von überhaupt allen Debatten, die soziale Identität hinterfragen oder von einer gemüsereichen Ernährung.
Und während ich so an meinem Rettich knabbere und meine Brille zurechtrücke, wundere ich mich wirklich. Warum ist dieses Schicksal so schwer zu ertragen? Woher kommt die große Scham, ist diese Eitelkeit vielleicht gar ein Symptom der Zuschreibung? Warum fällt es den alten weißen Männern so schwer zu sagen, ich bin ein alter weißer Mann. Weiter im Text. Stattdessen wird gestritten und gezetert.
Also Harald. Lass den Abfluss in Frieden. Keine Sorge, nach Berechnungen des Gleichstellungsreports 2019 dauert es eh noch 100 Jahre, bis wir alle gleichgestellt sind. So leicht wird das Patriarchat dann leider doch nicht gestürzt. Aber am schönsten wäre es natürlich, wenn das ohne polemische Bezeichnungen funktioniert.
Titelbild: Pixabay
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