„Es ist Zeit für einen Wandel“
Im Vorfeld der Bundestagswahl interviewen wir die Direktkandidierenden aller im Bundestag vertretenen Parteien. Marie Müser tritt für die Partei Bündnis 90/ Die Grünen im Leipziger Norden an.
Marie Müser tritt im Bezirk Leipzig Nord für die Grünen zur Bundestagswahl an. Sie ist auf Listenplatz sieben und Studentin in Leipzig. luhze-Autorin Elisa Mohr hat mit ihr über ihre antifaschistische Arbeit und den Klimawandel als strukturelles Problem gesprochen.
luhze: Was hat Sie zur Politik gebracht? Wie war Ihr Werdegang?
Müser: Ich habe mich 2017 dazu entschieden Politikwissenschaft zu studieren und bin da erst relativ zufällig reingerutscht. Ich wollte eigentlich Pädagogik studieren und habe Politik im Nebenfach angefangen. Das hat mich dann so interessiert, dass ich dies später zu meinem Hauptfach gemacht habe. Über Demonstrationen gegen Pegida und Legida habe ich begonnen mich zu politisieren, 2015 waren Tausende Menschen auf den Straßen. Die Parteipolitik kam dann erst etwas später. 2018 habe ich mir alle Wahlprogramme genommen, Wirtschaftsthemen und Außenpolitik verglichen und bin dann den Grünen beigetreten. Ich habe mich so entschieden, weil ich Klimaschutz als eines der wichtigsten Themen empfinde – da sind die Konzepte der Grünen am überzeugendsten. Außerdem hat mir der ganzheitliche politische Ansatz besonders gut gefallen. Aber wirklich angefangen hat es tatsächlich nicht mit Parteipolitik, sondern mit dem antifaschistischen Engagement über Bündnisse auf der Straße. Für mich ist Antifaschismus erst mal ein Konsens, den wir alle haben sollten in unserer pluralen Demokratie.
Wie kann denn antifaschistische Arbeit auf Bundesebene aussehen?
Dazu gehören ganz viele Facetten. Zum Einen braucht es eine klare Brandmauer gegen Rechts auf Bundesebene und im Parlament. Wenn man sich anschaut, was damals in Thüringen mit Kemmerichs Wahl zum Ministerpräsidenten passiert ist, gilt es weiterhin, Haltung zu zeigen. Antifaschismus ist der Grundpfeiler unseres Grundgesetzes, alle demokratischen Parteien müssen im Bundestag Druck machen. Zum Anderen sollten mehr Projekte gefördert werden, damit die Bildungsarbeit gut ausgestattet ist. Das umfasst unter anderem die Demokratieförderung, Schulprojekte, Aufklärungskampagnen, im Grunde jegliche Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus. Dazu gehört auch, dass Polizei und Verfassungsschutz gesetzlich so reguliert werden können, dass rassistische und verfassungsfeindliche Gesinnungen keinen Platz finden.
Wie ist da der Weg zu mehr Diskurs? Die Fronten sind verhärtet, was ja für eine positive Entwicklung nicht gerade förderlich ist.
In der polizeilichen Ausbildung sollte mehr Wert auf Aufklärung zu Rassismus und Antisemitismus gelegt werden. Außerdem muss die Polizei diverser werden. Mehr Frauen, mehr Menschen mit Migrationsbiographie, Menschen aus verschiedenen kulturellen und sozialen Kontexten. Die Polizei ist noch sehr männlich und sehr weiß. Es wäre allen Bürger*innen zuträglich, wenn die Beamt*innen einen Querschnitt der Gesellschaft abbilden würden, und könnte ihre Akzeptanz in der Bevölkerung stärken. Um dies zu verwirklichen, muss an den Rahmenbedingungen gefeilt werden.
Wie notwendig ist die Reform von BaföG?
Es ist wichtig, dass Menschen grundsätzlich bessere Startbedingungen haben, wozu dies definitiv gehört. Arbeiterkinder studieren tendenziell noch immer weniger als Kinder aus gut situierten Haushalten. Und das ist nur ein Baustein von vielen. Ich sehe da nicht nur die Bafög-Thematik. Es muss dringend mehr getan werden, um ein Studium für mehr Menschen aller Herkünfte zu ermöglichen, vor allem auch aller sozialer Hintergründe.
Sie sprechen sich ganz klar für die Sichtbarkeit von Ostdeutschland aus. Wie kann das umgesetzt werden?
Es gibt definitiv nicht den einen Ansatz. Man kann jetzt nicht einfach sagen, wir machen eine Ostquote. Da wäre überhaupt nicht geklärt, wer dann Ostdeutscher wäre – sind das auch die Nachwendegenerationen? Da braucht es ganzheitliche Ansätze, die auf Bundesebene geregelt werden müssen, zum Beispiel die Angleichung der Lebensverhältnisse. Die Löhne sind immer noch deutlich zu niedrig. Die neuen Bundesländer sind tendenziell auch eher ländlich geprägte Flächenländer, wodurch die Infrastruktur häufig nicht so da ist wie in den alten Bundesländern. Also muss viel in die Attraktivität dieser Regionen investiert werden, in den Kulturbereich, um Angebote für junge Leute zu schaffen. Aber letztlich ist wichtig, dass erstmal die ökonomische Aufholjagd gelingt, dass tatsächlich gleichwertige Lebensverhältnisse entstehen. Und zentral dabei ist, die Menschen aus den neuen Bundesländern auch wirklich mitzunehmen. Es gibt immer noch gewisse Vorbehalte. Es sind bewusste Innovations- und Forschungsförderung in den neuen Bundesländern nötig, für kleine und mittelständische Unternehmen.
Was ist die grüne Garantiesicherung, und wie ist sie gedacht? Ist das ein Hartz IV-Ersatz?
Grundsätzlich ist wichtig, dass die Regelsätze von Hartz IV höher sein müssen, das ist Teil der Garantiesicherung. Sie setzt auf Vertrauen und Chancen. Es muss viel mehr darum gehen, an den Bedürfnissen der Menschen orientiert zu sein und sicherzustellen, dass wirklich gute Berufs- und Weiterbildungschancen geboten werden. Außerdem müssen die Sanktionsmechanismen wegfallen. Da wird mit Druck und Angst gearbeitet, das halte ich für wirklich unmenschlich. Es kann nicht sein, dass in einem reichen Land wie Deutschland derartige Kürzungen vorgenommen und Menschen in schlimmste existenzielle Nöte getrieben werden. Das ist beschämend, wir müssen definitiv raus aus diesem Hartz-IV-System, wie es gerade existiert.
Sie nennen den Klimawandel als Punkt, der besonders im Vordergrund steht. Gibt es Aspekte, die Sie in der Bekämpfung für besonders wichtig halten?
Es geht nicht um Konsumentscheidungen der Einzelnen, sondern um politische Rahmenbedingungen. Den Konsument*innen muss eine freie Lebensweise ermöglicht werden, ohne soziale Härten zu provozieren. Das geht nicht nur über reine Angebotspolitik. Der CO2-Preis muss erhöht werden, denn der sollte die ökologische Wahrheit sprechen. Wind- und Solartechnologie müssen ausgebaut, Forschung und Innovation gefördert werden. Ein Kohleausstieg 2038 ist außerdem zu spät, wir sollten spätestens 2030 ausgestiegen sein. Ich finde also nicht, dass der Kern bei den Handlungen der einzelnen Bürger*innen liegt.
Also würden Sie sagen, dass die Lösung struktureller Umbau ist, der dann ein anderes Konsumverhalten zur Folge hat, statt umgedreht?
Genau, weil wir in Deutschland einfach unterschiedliche Voraussetzungen haben. Nicht alle Menschen haben dieselben Möglichkeiten, sich ein Elektroauto zu kaufen, oder Bio-Produkte im Supermarkt. Das sind kleine Entscheidungen, die massiv von den finanziellen Kapazitäten des Einzelnen abhängen. Es gilt, Produktionsbedingungen grundlegend zu verändern. Damit wird dann die Wirtschaft beeinflusst, was sich schlussendlich in den Angeboten widerspiegelt. Es geht um strukturelle Maßnahmen ganzheitlicher Politikansätze.
Das Misstrauen der Bevölkerung in Politik und Berichterstattung wächst. Wie kann dem begegnet werden?
Politische Prozesse müssen transparenter werden, der Zugang muss erleichtert und die Spitzenposten diverser besetzt werden. Das betrifft alle Menschen mit politischer Verantwortung. Und es muss wirklich unterscheidbare, wählbare Positionen geben. Es braucht einen nahbaren Politikstil, Fachdebatten sind oft nicht zugänglich für die Bevölkerung. Kurzum – es ist Zeit für einen Wandel.
Foto: Matthias Jobke
luhze hat alle Direktkandidierenden zweimal kontaktiert. Paula Piechotta, Peter Jess und Siegbert Droese haben uns keine oder nur verspätet Termine vorgeschlagen, weshalb mit ihnen keine Gespräche stattfinden konnten.
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