Die Stimmen der Wohnungslosen
Personen ohne festen Wohnsitz sind wie die meisten Deutschen wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung in dieser Bevölkerungsgruppe ist aber sehr gering. Die Stadt Leipzig möchte etwas dagegen unternehmen.
In das Wähler*innenverzeichnis wird automatisch aufgenommen, wer seit mindestens drei Monaten in Deutschland seinen festen Wohnsitz hat und grundsätzlich wahlberechtigt ist. Als Grundlage für die Eintragung dienen die Meldeverzeichnisse der Gemeinden. Da Wohnungslose keinen festen Wohnsitz haben, sind sie auch nicht ins Meldeverzeichnis und damit in die Wähler*innenverzeichnisse eingetragen. Genau wie Personen, die gerade umgezogen sind, müssen Wohnungslose einen Antrag auf Eintragung in das Wähler*innenverzeichnis stellen.
Dieser Antrag muss spätestens am 21. Tag vor der Wahl gestellt werden. Der Antrag bedarf des Namens, des Geburtsdatums und einer Adresse des Antragsstellenden. Hier können Wohnungslose auch die Anschrift der Gemeindeverwaltung angeben. „Zudem müssen die Wohnungslosen eine eidesstaatliche Versicherung abgeben, dass sie sich seit mindestens drei Monaten in Leipzig aufhalten“, sagt Juliane Nagel, Stadträtin für die Linke in Leipzig. Eine Übermittlung per Post oder als Sammelantrag, beispielsweise durch eine Einrichtung für Wohnungslose, ist ebenso möglich.
Die Antragsstellung erscheint nicht sonderlich kompliziert. Benjamin Müller, Leiter der Wohnungslosenhilfe „Leipziger Oase“, weiß jedoch, dass jeder Weg und jede Hürde für Menschen im Wohnungslosenmilieu ein großes Problem sind: „Obwohl es ein großes Interesse an politischen Vorgängen gibt, haben viele Wohnungslose nicht die Hoffnung, daran persönlich etwas mitgestalten zu können.“ „Ein Problem ist auch, dass der Antrag schon 21 Tage vor der Wahl gestellt werden muss. Das muss man ganz genau auf dem Schirm haben und ich vermute, dass das einigen erst kurz vorher einfällt.“, sagt Nagel. Die Zahl der gestellten Anträge sei deswegen sehr gering, erklärt Müller. Die genaue Anzahl wird erst nach der Bundestagswahl veröffentlicht. Müller schätzt jedoch, dass es zumindest in seiner Einrichtung auch dieses Jahr nicht mehr als fünf sein werden. Zur Bundestagswahl 2017 haben nur fünf Leipziger Wohnungslose gewählt. Niemand weiß, wie viele Wohnungslose es im Leipziger Stadtgebiet gibt. Ab 2022 wird es eine bundesweite, zentrale Statistik zur Zahl der Wohnungslosen geben. Momentan kann man jedoch nur schätzen. 2020 haben 665 Personen mindestens für eine Nacht die Leipziger Gemeinschaftsnotunterkünfte in Anspruch genommen.
Seit der Landtagswahl 2019 werden in Sachsen Flyer in Einrichtungen für Wohnungslose verteilt, welche über das Wahlrecht informieren. Die Diakonie hat in diesem Jahr das erste Mal Flyer erhalten. „Einzelne, politisch sehr interessierte Klient*innen haben das gut angenommen“, erzählt Müller. Er erwartet jedoch, dass der Erfolg sehr gering bleibt. „Um die Zahl der Anträge zu erhöhen, müssen wir viel mehr Kraft investieren“, sagt Nagel. Man könnte zum Beispiel mit Teams in die Einrichtungen gehen, mit den Menschen sprechen und ihnen die Möglichkeit geben, den „Wahl-O-Mat“ auszuprobieren.
„Auch das Meldewesen könnte verändert werden“, sagt Nagel. Wenn auch Personen ohne festen Wohnsitz mit einer Postadresse im Melderegister auftauchen würden, könnte ihnen die Wahlbenachrichtigung an diese Adresse zugestellt werden. Die meisten Wohnungslosen haben auch bereits eine Postadresse, zum Beispiel in einer Hilfseinrichtung. Die langfristig beste Lösung für das Problem sei aber, Wohnungslosigkeit zu verhindern, sagt Nagel. Das kann zum Beispiel durch das Verbot von Zwangsräumungen und die Schaffung von Hilfs- und Alternativangeboten erreicht werden.
Das Modellprojekt „Eigene Wohnung“ der Stadt Leipzig sei aber bereits eine gute Möglichkeit, um Menschen aus der Wohnungslosigkeit herauszuhelfen und so eine höhere Wahlbeteiligung zu ermöglichen, meint Nagel. Dabei werden Menschen nach dem „Housing-First-Prinzip“ bedingungslos eine Wohnung und soziale Beratungsangebote zur Verfügung gestellt. Dadurch soll ihnen der Weg zurück zur vollständigen Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden.
Fotos: Yannick Beierlein
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