„Und dann waren wir allein“
Die Leipziger Meteorologin Linda Ort spricht mit luhze über ihre Überwinterung auf der deutschen Antarktisstation, die Isolation, Rekordstürme und Schmorbraten.
Seit zehn Monaten ist die Leipziger Meteorologin Linda Ort auf der deutschen Antarktisstation Neumayer III. Mit neun anderen Forschenden hält sie die Station auch in der tiefsten Polarnacht am Laufen. Bereits vor ihrer Abreise sprach luhze mit ihr. Nun erzählt sie im Interview mit luhze-Redakteur Niclas Stoffregen von der Isolation, Rekordstürmen und Schmorbraten.
luhze: Wie viel Grad ist es bei Ihnen?
Ort: Heute waren es minus 33 Grad. Wir hatten einen wunderschönen Sonnentag mit blauem Himmel.
Sie sind vier Wochen lang mit der „Polarstern“ von Bremerhaven zur Station gefahren. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die alten Überwinterer*innen und Sommergäst*innen die Station verlassen haben, gab es die Option für Sie, abzubrechen. Haben Sie überlegt, diese zu nutzen?
Nein, kein Mal. Unsere Schiffsfahrt war einzigartig. Ich hatte noch nie einen solchen Arbeitsweg. Wir haben Wale und Delphine gesehen. Fliegende Fische sind aus dem Wasser gesprungen und Albatrosse haben unser Schiff verfolgt. Dann kam uns der erste Eisberg entgegen, auf dem Pinguine waren. Danach das erste Meereis, das immer dicker wurde. Das ist ein sehr interessantes Geräusch, wenn Meereis an den Außenwänden des Schiffs kratzt. Nicht einmal habe ich daran gedacht, abzubrechen. Wir hätten auch nicht abbrechen können. Wir wurden als Team ein halbes Jahr vorbereitet und auf dem Schiff schon weiter geschult. Am ersten Tag auf der Station wurde direkt jeder in seinen Bereich eingearbeitet. Wir waren sehr euphorisch an diesen besonderen Ort zu kommen. Vorher hört man viel, aber es zu erleben ist eine ganz andere Nummer.
Sie sind kurz vor Weihnachten in See gestochen. Was schenkt man sich auf einem Forschungsschiff?
Wir haben ein Weihnachtswichteln veranstaltet. Ich habe ein paar Süßigkeiten und auch interessanter Weise eine Steckdose bekommen. Es waren sehr wilde Geschenke und vor allem Zeug, was wir gerade dahatten. Heiligabend war für uns ein besonderer Tag, denn er war der Erste ohne Masken und Abstandsregeln.
Als die alten Stationsbesatzung und die Sommergäst*innen abgereist sind, war Ihr Team plötzlich ganz allein. Können Sie diesen abrupten Bruch und das Gefühl dieser totalen Isolation beschreiben
Unser letzter Kontakt mit Menschen war das Bauteam, die einen Helikopter zur „Polarstern“ genommen hatten. Der Helikopter ist von uns weggeflogen, das Bauteam hat noch heraus gewunken und dann waren wir allein. Am Anfang war das ein seltsames Gefühl. Ich kannte die Station nicht, sie wirkte leer und ruhig ohne die anderen. Aber mittlerweile denke ich, dass zehn Personen die perfekte Größe ist. Jeder hat seinen eigenen Bereich und Aufgaben und wenn ich draußen unterwegs bin und meine Kollegen mir über den Weg laufen, dann grüße ich sie und fühle mich wie in einer Kleinstadt. Ein ganz heimeliges Gefühl.
Die Polargebiete sind bekannt für ihre Polarnächte, in denen, aufgrund der Erdachsenneigung, die Sonne für Monate nicht über den Horizont steigt. Wie wird man in dieser Phase der Dunkelheit nicht verrückt?
Mitwinter, also die längste Nacht, ist am 21. Juni. Wir sind auf einer Breite von 70 Grad Süd, das heißt, wir hatten Polarnacht für etwa acht Wochen, aber keine völlige Dunkelheit. Mitwinter blieb es immer noch hell am Mittag, die Sonne war zwar für zwei Monate unter dem Horizont, aber uns hat trotzdem viel Streulicht erreicht, das von der Atmosphäre reflektiert wurde und den Himmel in sehr schöne Farben getaucht hat. Der psychische Effekt war tatsächlich gar nicht so stark, wie ich angenommen hatte. Ich hatte auch schon Polarnacht in Spitzbergen erlebt, aber hier war es tatsächlich einfacher, weil man einen viel stärkeren Tagesablauf hat. Ich habe darauf achten müssen, eine gute Stirnlampe dabei zu haben oder Außenarbeiten dann zu machen, wenn noch ein bisschen Tageslicht da ist. Aber eigentlich fand ich die in Dämmerlicht getauchte Atmosphäre entspannend und beruhigend.
Sie arbeiten im Spurenstoffobservatorium, das sogenannten Spuso. Ihre Vorgängerin hat Ihnen gesagt, dass das nie langweilig wird. Was ist Ihr Fazit nach den vielen Monaten?
Ja, das kann ich unterschreiben. Wenn ich weniger zu tun habe, also wenn alle Messungen nach Plan laufen, dann schaue ich bei meinen Kollegen vorbei, ob sie Hilfe brauchen oder ich schraube mit dem Techniker an einer Pistenraupe. Es gibt immer etwas zu tun. In meinem Bereich bin ich auch sehr eingebunden und bekomme auch Hilfe, wenn mal eine größere Messung ansteht oder Probleme aufkommen. Jedes Mal, wenn ein Messgerät mehr Pflege braucht, kann ich umso mehr in die Materie eindringen. Daran habe ich sehr viel Spaß.
Ist schon etwas kaputt gegangen?
Ja immer wieder. Aber bisher konnte ich jedes Problem beheben. Wir haben hier sehr besondere Bedingungen, starke Kälte und sehr extreme Windgeschwindigkeiten. Gefühlte minus 58 Grad war bisher das kälteste, dann muss man auf Finger, Füße und das Gesicht aufpassen, sonst wird es schmerzhaft. Mitte August hatten wir die schnellsten Windgeschwindigkeiten seit den Messungen der Neumayer Stationen. Eine mittlere Windgeschwindigkeit von 175 und Böen von bis zu 204 Stundenkilometern (Die zwölfte und höchste Stufe der Beaufortskala, der Orkan, klassifiziert Windstärken ab 118 Stundenkilometern, Anm. d. Red.). Das war sehr aufregend.
Ihre Kolleg*innen führen andere Studien durch. Mit dabei eine Studie der Charité Berlin, die untersucht, ob bei Ihrem Team bestimmte Gehirnareale schrumpfen. Konnte das schon verifiziert werden?
Das haben wir uns schon selbst gefragt. Wir machen jeden Monat kognitive Tests, füllen Fragebögen aus und geben Blut- und andere Proben. Aber das wird erst gesammelt und dann im nächsten Sommer an die Charité geschickt. Dann werden wir vielleicht später von den Erkenntnissen hören.
Wie gestaltet sich Ihre Freizeit?
Wir haben einen sehr durch getakteten Rhythmus, fast schon Freizeitstress. Das war eigentlich nicht unsere Absicht, aber das hat sich so eingestellt. Nach dem Essen ist Feierabend und dann will jeder etwas tun. Dabei ist es schön, wenn man sich einrichten kann, wann man mit Daheim telefoniert, wann man gemeinsam einen Film schaut, in die Sauna geht oder etwas zusammen spielt.
Sie wollten sich das Stricken beibringen. Ist Ihnen das gelungen?
Ja, das habe ich. Mein Pullover ist schon fast fertig und manche meiner Teammitglieder tragen bereits von mir gestrickte Mützen.
Was haben Sie gestern gegessen?
Gestern war ein etwas anderer Tag, weil wir auf dem Meereis unterwegs waren, um Messungen durchzuführen. Das machen wir einmal im Monat und sind dafür den ganzen Tag unterwegs. Deshalb läuft alles etwas kreuz und quer und einer von unseren Geophysikern hat Essen gemacht. Es gab Pizza. Aber sonst ist das Essen vielfältig. Wir haben einen Koch, der uns unheimlich gerne verwöhnt. Er hat so viele Ideen und macht sich viel Aufwand, so würde ich niemals Zuhause kochen. Da gibt es Schmorbraten, Kassler, selbstgemachte Klöße oder Spätzle. Sehr lecker. Das meiste sind Tiefkühl-, Trockenprodukte und Haltbares wie Kartoffeln. Zusätzlich haben wir noch das Gewächshaus unserer Gastwissenschaftlerin von der US-amerikanischen Weltraumorganisation Nasa, die uns immer wieder frischen Salat und Tomaten auf den Tisch stellt.
Kann eine solche Tomate aus dem Weltraumgewächshaus mit einer Sonnengereiften aus Spanien mithalten?
Ich würde fast sagen, die sind besser. Denn sie sind ganz frisch und haben keinen Weg hinter sich.
Sie konnten schon einen interkontinentalen Preis abräumen. Im antarktischen Filmfestival in der Kategorie „48 Hours“, wo die teilnehmenden Station 48 Stunden Zeit haben, um einen Kurzfilm zu produzieren, hat Ihr Team die Auszeichnung „Best Actor“ bekommen. Für „Best Film“ hat es nicht gereicht. Woran lag es?
Das war unser Sturmwochenende. Anderen Stationen zum Beispiel der Südafrikanischen hat der Rekordsturm das Internet gekappt, so dass diese gar nicht antreten konnten. Wir hatten keine großen Schäden, mussten aber trotzdem einiges reparieren. Dadurch wurde der Zeitrahmen sehr knapp. Darauf, was wir geschafft haben, sind wir sehr stolz und haben uns sehr über die Platzierung gefreut.
Titelfoto: Paul Ockenfuß; Portraitfoto: Markus Baden
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