Ewig wird er weiterleben
Harpunen, Waltran und die weiße Endlosigkeit: Melvilles Abenteuerroman „Moby Dick“ erwacht auf Leipzigs Bühnen zum Leben und zeigt eine Suche mit klarem Ziel.
Wie weit müssen wir Menschen laufen, wenn uns die eigene Rache treibt?
In dem Fall des Kapitän Ahab bis zum eigenen Untergang. Seitdem ihm einst ein weißer Wal namens Moby Dick ein Bein abriss, ist der Seemann auf erbitterter Jagd nach seinem persönlichen Kryptonit. Besessen von Rachsucht und Jagdfieber heuert Ahab an, um das ihm verhasste Geschöpf zu finden. Ohne Rücksicht auf Verluste führt der Kapitän seine Crew durch die Meere. Auf diesem Weg erlegen sie Wale, entkommen Seestürmen und finden sich mit den monotonen Durststrecken des Schiffslebens ab. Nach einer langen und zähen Reise sichten sie Moby Dick schließlich und versuchen ihn zu töten. Er aber rammt das Schiff und zieht Kapitän Ahab mit sich in die Tiefe.
Schon beim Betreten des kleinen Saales auf der Lützner Straße werden die Zuschauer*innen durch die von der Decke hängenden Schiffstaue dazu angehalten, sich gedanklich auf die bevorstehende Reise vorzubereiten. Das Stück ist ausverkauft und das Publikum begibt sich Stück für Stück auf die Plätze. Im voll besetzten Raum erlischt das Licht und für eine Weile ist es dunkel und still im Saal. Dann das Geräusch von Meeresrauschen. Durch weißes Licht wird die Bühne allmählich wieder erleuchtet und fünf Menschen sind zu sehen, wie sie mit dem Rücken zum Publikum an einer roten Backsteinwand lehnen. Ansonsten ist die Bühne leer. Nacheinander tragen sie die Einleitung Ismaels vor, die mit den bekannten Worten „Nennt mich Ismael“ beginnt. Ismael, das überlebende lyrische Ich aus dem Roman, wird in dieser Inszenierung aber keine Rolle spielen. Die Person, die spricht, räkelt sich und wendet sich dem Publikum zu. Es ist die Rede von der Verbindung von Wasser und Tiefsinn sowie von einem Wal, der ewig lebe. Langsam färbt sich das Licht bläulich, die Schauspieler*innen sind auf der Bühne verteilt. Jede*r steht an einem festen Platz und beginnt, den Oberkörper zu kreisen – als wären sie charakterlose Bojen, die im Gleichklang treiben.
Ohne Zweifel sind schauspielerische Leistung und Intonationstalent bereits jetzt zu erkennen. Doch bisher ist nicht klar, wer welche Rolle im Stück einnimmt. Die Darstellungen wirken noch kontextlos und etwas wirr. Das ändert sich, als einer der fünf von der Bühne in das Spotlight tritt. Der Spieler beginnt einen fachlichen Monolog über die Anatomie von Pottwalen, der so informativ und fesselnd ist, dass man gar nicht mehr weghören möchte. Die anderen vier bleiben im Hintergrund. Sie knüpfen Seetaue aneinander. Die medizinischen Analysen über Pottwale nehmen derweil kein Ende, der Sprecher redet sich ein und kann nicht mehr damit aufhören. Seinen Mitspieler*innen scheint er zu viel Raum einzunehmen. Sie beginnen ein Lied zu summen, das seinen Monolog allmählich übertönt. Fast wirkt es so, als ob ihnen seine langwierigen Ausführungen dem Publikum gegenüber peinlich werden. Das Publikum lacht bei den Versuchen der vier Spieler*innen den Monologisierenden zurück auf die Bühne zu zerren. Sie schaffen es und alle fünf schrubben das Deck. Dann ändert sich das Licht und leitet wieder eine Szene ein, in der die Rollen neu verteilt sind.
Das Konzept wird klar: die fünf Schauspieler*innen (Tina Bolle, Conrad Böhme, Kira Lenz, Leonard Merkes und Paulina Luzie Stert) verkörpern jeweils mehrere Charaktere innerhalb der Geschichte. Mal ist eine*r von ihnen der fanatische Kapitän und die anderen sind seine Crew. Dann ändert Ahab sein Gesicht und wird von einer anderen Person verkörpert. Und mal, im unisono, sind sie alle gleichzeitig Ahab. Mona Li (Regie) und Lea Aupperle (Dramaturgie) wählten diese Form der Inszenierung und Rollenverteilung ganz bewusst. Im Mittelpunkt der Leidenssuche nach dem weißen Wal stehe nicht die Geschichte eines rein männlich-gelesenen Kapitäns, sondern eine genuin menschliche Erfahrung, so Li und Aupperle. Jede*r schlüpfe mal in Ahabs Rolle, denn jede*r trage einen Teil in sich, der unerbittlich sucht.
Dieser Zugang erhebt die 170-jährige Geschichte über den weißen Wal auf eine neue und experimentelle Ebene, die trotz der dem Originaltext entnommenen Dialoge in jeder Szene modern wirkt. Nicht zuletzt ist es die großartige Besatzung, die das Stück trägt. Auch wenn sich die Darsteller*innen selbst noch in Ausbildung befinden, macht das ihre Darbietung nicht minder überzeugend und mitreißend. Wer Lis und Aupperles Inszenierung besucht, kann sich auf großes Theater freuen, das die Unermüdlichkeit menschlichen Suchens zeigt. „Moby Dick“ kann noch am 22.10., 23.10. (mit Publikumsgespräch), 12.11. und 13.11. im Neuen Schauspiel besucht werden.
Fotos: Maria Obermeier
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.