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  • Fast zum Anfassen

    Das Dok Neuland, die Virtual-Reality-Ausstellung des Dok Leipzig, bietet Besucher*innen eine immersive Erfahrung und eröffnet einen Raum, in dem alles möglich scheint.

    Im Keller des Museums der bildenden Künste Leipzig hat die Installationskünstlerin Paula Gehrmann einen dystopisch anmutenden Raum geschaffen. Mit Plastikplanen behängte Metallgestänge bilden mal mehr, mal weniger abgeschlossene Abteile; die unangenehme Assoziation an Quarantäne-Zellen drängt sich auf. Vereinzelte Bahnen von grünem oder blauem Stoff bilden die wenigen Farbtupfer, auf denen das Auge sich dankbar ausruht. In diese Landschaft sind zehn verschiedene Virtual-Reality-Kunstwerke eingebettet.

    Eine Schwarz-Weiß-Zeichnung von einem Mann mit Handschellen, der hilfesuchend die Arme nach oben streckt. Der Hintergrund ist sehr dunkel, man sieht den Mann von oben, wodurch seine Hände sehr groß wirken.

    „Reeducated“ basiert auf den Erinnerungen von drei Männern, die viele Monate in einem chinesischen Umerziehungslager verbringen mussten. Foto: Dok Leipzig 2021 / Reeducated, Sam Wolson

    Von den Erklärungen der freundlichen Dok-Volunteers eingeführt, kann man sich langsam in dieses digitale Neuland vortasten. Selbst wer vielleicht schon mal auf der einen oder anderen Messe eine VR-Brille aufhatte, findet in dieser vielfältigen Ausstellung sicher mindestens einen unbekannten Gedanken. Mal erleben wir in „Reeducated“ das Leid in einem der Umerziehungslager, in denen die chinesische Regierung Uigur*innen, Kasach*innen und andere Minderheiten inhaftiert, beinah am eigenen Körper mit. Dann wieder erkunden wir in „Tangible Utopias“ futuristische Städte, deren Gestaltung übrigens auf Interviews mit 250 rumänischen Kindern basiert. Ein Film aus dem Interviewmaterial, der neben der Station in gewohntem 2D gezeigt wird, geht zwar fast eine Stunde, aber die lohnt sich.

    Dokumentarisches steht neben Fiktivem, alte Stammesrituale neben digitalen Welten, in denen wir nur noch Bewusstsein sind. Doch manche Motive ziehen sich auch durch mehrere Arbeiten, etwa die Frage nach der geschlechtlichen Identität. „I was a man and a woman before I was born, so who am I?”, spricht die Stimme in „They Dream in My Bones“ immer wieder. Und in „Atomu” begleiten wir eine Person ohne Geschlecht auf ihrer Reise zu ihrem wahren Selbst.

    In einem 3D-Bild watet eine androgyne Gestalt vom Betrachter weg durch schwarzes Wasser. An den Seiten und an einem weit entfernten Ende, auf das die Person zuläuft, sieht man Leinwände mit Bildern von kahlen Bäumen, die sich in dem Wasser spiegeln. Von beiden Seiten läuft je eine raubtierhafte Gestalt durch das Wasser, die ebenso wie die Person von einem schwarz-weißen Muster bedeckt sind.

    „They Dream in My Bones” erkundet, was wäre, wenn die Träume jedes Menschen in seinen Knochen gespeichert wären und wir so die Träume von Verstorbenen extrahieren könnten. Foto: Dok Leipzig 2021 / They Dream in My Bones – Insemnopedy II, Faye Formisano

    Die Stationen sind mal mehr, mal weniger interaktiv. Einige sind „nur“ 360°-Filme, bei denen nicht nur vor, sondern auch neben, hinter, über und unter einem Dinge passieren. Oder vielleicht sogar dort, wo man sich eigentlich selbst befindet, so als würden die Filmfiguren den eigenen Körper wie Geister passieren. Oder ist man selbst der Geist?

    Bei anderen Stationen kann man über Controller mit der digitalen Welt interagieren. Auch wenn man meist eher Anweisungen befolgt, anstatt durch die eigenen Entscheidungen den Fortgang des Spiels zu beeinflussen, ist die Erfahrung zutiefst individuell. Nicht nur weil man sich im Gegensatz zu einem herkömmlichen 2D-Leinwand-Film entscheiden kann, wohin man schaut, oder weil die Arbeiten natürlich in jeder*jedem unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Sondern vor allem deshalb, weil gerade dieses Digitale, die völlige Abschottung aller Sinne durch Brille, Kopfhörer und Maske, uns auf die physische, reale Welt und den direkten menschlichen Kontakt zurückwirft (auch wenn die Maske natürlich nicht zum Konzept gehört).

    Ein Bild von einer futuristischen Stadt mit lilanen Hochhäusern, die aus dreieckigen Prismen zusammengesetzt sind. Die Sonne steht hoch am Himmel, man sieht Bäume, Straßenlaternen und vereinzelte Passanten.

    „Tangible Utopias: Urban Futurism” vermittelt einen Eindruck davon, wie sich Kinder die Welt in 100 Jahren vorstellen. Foto: Dok Leipzig 2021 / Tangible Utopias: Urban Futurism, Ioana Mischie

    So bin ich auf echte, menschliche Helfer*innen angewiesen, die mir die Brillen desinfizieren und die Kopfhörer aufsetzen. Und sobald ich dann blind und taub bin, bin ich auch hilflos, zumindest in dieser Welt. Ich bewege mich vorsichtig, denn ich habe Angst, gegen Wände zu laufen, die dort, wo mein Kopf gerade ist, nicht existieren. Mehr als einmal muss eine Mitarbeiterin zu Beginn meine Finger auf die richtigen Köpfe auf den Controllern lenken, weil ich sie nicht finde.

    Der Tastsinn ist alles, was übrigbleibt, die einzige Möglichkeit, mich zu erreichen, wenn meine zehn spärlichen Minuten in den leuchtenden Landschaften von „Tangible Utopias“ vorüber sind. Und auch der Körper selbst reagiert auf die Fantasiewelt: Als die leuchtenden Figuren in „Kykeon“ durch mich tanzen, zucke ich zusammen. Als es in „Hush“ zu regnen beginnt, drehe ich automatisch die Handflächen nach oben. Vielen scheint es ähnlich zu gehen: Wenn wir die Brillen wieder absetzen, blinzeln wir, und antworten manchmal nur verzögert auf die Frage, wie es war, als wären wir gerade aus langem Schlaf erwacht.

    Foto: Susann Jehnichen

     

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