Verantwortung – Von Nähe und Distanz
Wie fühlt es sich an in diesen Zeiten über die eigene Rolle in der Gesellschaft nachzudenken? Kolumnist Jeremias versucht sich der Komplexität dieser Frage anzunähern.
Schauplätze eines einigermaßen normalen, kalt- tristen Herbsttages in Leipzig: Universität, Mensa, Sportforum, Wohnung. Was all diese Orte verbindet? Menschen. Überall sind wir damit konfrontiert, dass wir soziale Wesen sind. Und das ist erstmal ziemlich schön. Dieses Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein, Verantwortung für andere zu übernehmen ist etwas, das meinem und wie ich glaube, dem Leben vieler Menschen einen Sinn gibt. Gleichzeitig wird die Frage, ob es mir möglich ist, meinem eigenen Anspruch von Mitmenschlichkeit und Solidarität in unserer zunehmend globalisierten und digitalisierten Welt ausreichend gerecht zu werden, immer wieder an den Strand meiner Existenz gespült. Aber muss ich mir diese Frage überhaupt stellen? In dem neuesten Buch der irischen Erfolgsautorin Sally Rooney schreibt die Romanfigur Alice: „So of course in the midst of everything, the state of the world being what it is, humanity on the cusp of extinction, here I am writing another email about sex and friendship. What else is there to live for?” Sind persönliche Beziehungen das einzige, wofür es sich noch zu leben lohnt?
Eine Push-Nachricht nach der anderen. Ich scrolle durch das Onlineformat einer deutschen Wochenzeitung. Wie erwartet, ist das Ganze ziemlich deprimierend. Ich wechsele zur Ablenkung in eine andere App. Es gibt zwar vegane Pancakerezepte, süße Pandavideos und Urlaubsfotos aus #italy, aber auch hier kann man sich nicht über den aktuellen Zustand der Welt hinwegtäuschen. Da draußen passiert ziemlich viel, was zu Recht angeprangert wird. Das löst etwas in mir aus. Vor allem und gerade, wenn ich privilegiert und wohlbehütet in einem warmen Hörsaal sitze. Ich kann nicht leugnen, dass das eine bewusste Entscheidung ist.
Ich bin hier und nicht bei den geflüchteten Menschen, die an der belarussisch-polnischen Grenze frieren. Ich scheine immer am falschen Ort zu sein und unrecht zu handeln. Nicht-Handeln bedeutet bekanntlich auch zu handeln. Aber bin ich verantwortlich? Wenn jeder Mensch gleich ist, und davon bin ich überzeugt, ist es doch ziemlich egal, wo auf dieser Welt er sich gerade befindet. Wenn ihm Unrecht geschieht, bin ich verantwortlich.
Trotzdem muss ich mich oftmals daran erinnern, dass es unterschiedliche Arten und Ebenen gibt, auf denen wir unserer Verantwortung gerecht werden können. Ein Weg wäre es quasi als Kompensation, in Schmerz und Verzweiflung zu versinken. Um das vorwegzunehmen: Ich habe das für euch mal versucht und ich kann euch versichern, dass es nichts bringt. Rückzug in die eigene Gefühlswelt finde ich irgendwie auch feige. Also Probleme einfach ignorieren? Finde ich auch schwierig: Nur weil du dich nicht mit einem Thema beschäftigen musst, heißt das nicht, dass du das nicht solltest. Ich habe gemerkt, ein Handlungsimpuls entsteht für mich immer daraus, dass ich das Gefühl habe, eine differenzierte Meinung und ausreichendes Wissen zu einem aktuellen Ereignis zu haben.
Entschleunigung kann meiner Meinung nach dabei helfen persönliche Grenzen der Verantwortung auszuloten. Wir werden jeden Tag (berechtigterweise) mit dem Leid dieser Welt konfrontiert. Bilder, Werbung, Gespräche. Eine Flut an Ereignissen stürzt jeden Tag auf uns ein. Und ich glaube nur, wenn wir einordnen und sortieren, ist es möglich herauszufinden, wofür wir Verantwortung übernehmen können und wollen. Alles geht nicht, aber ein bisschen schon. Leider ist es symptomatisch für das System, in dem wir leben, dass Probleme nicht von einem auf den anderen Tag erscheinen und dann wieder verschwinden. Das heißt auf der anderen Seite, dass es ein lebenslanger Prozess ist, meiner Verantwortung für die Welt und meine Umwelt gerecht zu werden.
Es wäre schön, könnte man sich einfach ausruhen und gemütlich zurücklehnen. Träumend durch die Welt tanzen. Ein bisschen leben und dann wieder gehen. Leider funktioniert es aber so nicht. Trotzdem habe ich die Hoffnung auf Veränderung im Großen wie im Kleinen nicht verloren. Denn der Blick in mein persönliches Umfeld, das aktive Erleben von Beziehungen, erinnert mich tagtäglich daran, wie einfach es sein kann, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich wie diesen Sommer mit meinem großen Bruder in Frankreich Urlaub mache, mit einer Freund*in im Clara-Zetkin Park spazieren gehe oder mit einem meiner Mitbewohner*innen abends gemütlich einen Tee trinke, hinterfrage ich nichts. Ich bin hier und die andere Person ist hier. Auch das ist eine Form von Solidarität.
Sicher, in der heutigen digitalen Welt ist das Ganze deutlich komplexer, da wir (leider!) nicht mehr in kleinen, abgeschotteten Solidargemeinschaften zusammenleben. Aber auch wenn es sich manchmal so anfühlen mag, sind wir nie ganz allein für irgendetwas verantwortlich, sondern immer Individuen in Gemeinschaft. Ja, die Welt ist chaotisch, unübersichtlich und nicht immer perfekt. Ja, auf den Herbst folgt der Winter. Ja, die Pandemie ist noch nicht vorbei. Aber wir können es trotzdem weiter genießen, füreinander da zu sein. Jeder auf seine Art und Weise. Das gibt Hoffnung, dass wir in dieser geteilten Verantwortung für diese Welt die multiplen Krisen doch noch irgendwie gelöst bekommen. Und wenn nicht, dann gibt es immerhin noch „sex and friendship“. Könnte schlimmer sein.
Fotos: Privat
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