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  • Die Herausforderung des Alleinseins

    Nach ihrem Auslandssemester in Irland denkt Kolumnistin Natalie über das Alleinsein und das Zusammensein mit anderen Menschen nach. Und über Verlust, der dem Alleinsein eine andere Bedeutung gibt.

    Der Mensch ist ein Rudeltier. Zumindest sagen das die meisten. Das bedeutet zwangsläufig, dass Menschen dazu gemacht sind mit anderen Menschen zusammen sein zu müssen.

    Wenn man in eine neue Stadt kommt und niemanden kennt, fängt man automatisch an über das Alleinsein nachzudenken. So ging es mir in meinem Auslandssemester in Irland.

    Ich studierte für vier Monate in Dublin und lernte einiges über diese Stadt. Dublin ist riesig auf den ersten Blick. Unübersichtlich, laut, chaotisch. Um dort zu überleben, muss man sich dem Rhythmus anpassen. Rote Ampeln ignorieren, um Mieten und Restauranttische feilschen und den Platz in der Schlange vor einem Pub Tresen mit gefletschten Zähnen verteidigen. Es ist ein hartes Pflaster. Wortwörtlich.

    Aber durch die Uni, Apps und ein bisschen Glück findet man ziemlich schnell Anschluss. So war es bei mir ebenfalls. Und plötzlich war ich umringt von lauter Fremden aus allen Ecken der Welt.

    Doch so toll wie jeder Abend auch war, egal, wie viel Spaß ich hatte, wenn ich nach Hause kam und froh war endlich meine Ruhe zu haben, war da auch dieses andere Gefühl. Ich schaute auf mein Handy und wollte ihre Nummer wählen. Aber mir war klar, dass niemand abheben würde. Denn das Handy lag ausgeschaltet in Deutschland. Es würde sich auch nicht wieder anschalten. Und meine Mutter niemals mehr mit mir sprechen.

    Das ist vermutlich das Komische am Alleinsein. Man sehnt sich danach, man glaubt, dass man allein sein möchte. Aber, wenn es dann wirklich so ist, will man das eigentlich gar nicht.

    Meine Mutter und ich hatten kein gutes Verhältnis. Wir waren nie die Sorte von Mutter und Tochter, die miteinander quatschen wie beste Freundinnen. Wir waren eher die Sorte, die sich einmal im Monat anschreien. Früher hat sie mich regelrecht mit Anrufen terrorisiert. Ich war jedes Mal genervt.

    Jetzt hat sie mich seit einem halben Jahr nicht mehr angerufen und es fehlt mir. Sogar das Gestreite fehlt mir. Ich will nicht, dass sie mich in Ruhe lässt, aber eine Wahl habe ich nicht mehr.

    Natalie Stolle trägt eine dicke Jacke, eine Mütze und einen Rucksack. Sie schaut in die Kamera und steht auf einem Wanderweg in felsiger Landschaft. Die Vegetation ist sehr niedrig und scheint einem stetigen Wind trotzden zu müssen.

    Beim Erkunden von Irland fiel es Kolumnistin Natalie leichter die Trauer zu vergessen.

    Manchmal, wenn mich die Trauer im Auslandssemester überwältigte, suchte ich sofort die Gesellschaft anderer. In einem übervollen Pub mit Leuten, die über Gott und die Welt reden wollten, war es leicht zu vergessen, was passiert war. Die wenigsten erkundigen sich direkt nach den Eltern oder fragten, ob sie noch am Leben sind. Niemand geht davon aus, dass mit 26 die Mutter bereits fort ist.

    Auf der anderen Seite war aber gerade das heilsam. Ich konnte selbst entscheiden, wem ich von meinem Verlust erzählte und wem nicht. Und bei manchen blieb ich die lustige, fröhliche Natalie mit den Anekdoten aus weiten Fernreisen.

    Das Schlimmste war aber dennoch Irland zu verlassen. Diese aufregende Zeit mit den Reisen, den hunderten Leuten, die ich traf – all das war mit einem Schlag vorbei. Es war Zeit zurückzukehren und mich der Realität zu stellen.

    Ich habe schon mal eine so lange Reise unternommen. Mit 18 nach Neuseeland für fünf Monate. Als ich damals zurückkehrte, kam meine Mutter aus dem Haus gestürzt und konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie umarmte mich zitternd und sagte: „Fünf Monate waren wirklich zu lang!“ Sie war kein besonders gefühlsduseliger Mensch, aber damals weinte sie.

    Diesmal hat sie mich nicht wieder begrüßt, als ich zurückkam. Diesmal sah ich sie auf einem Friedhof an Weihnachten wieder. Seitdem denke ich immer wieder wie seltsam und bescheuert es früher war, von mir zu glauben, dass ich wirklich allein sein möchte.

    Menschen können einem furchtbar auf die Nerven gehen. Besonders die, die wir uns nicht für unser Leben ausgesucht haben. Die uns einfach zugeteilt worden sind. Aber wenn sie dann unwiederbringlich fort sind, begreifen wir erst, was sie uns wirklich bedeutet haben. Und was es letztendlich heißt, jetzt allein sein zu müssen.

    Ich weiß nicht, ob das Gefühl der Einsamkeit je wieder verschwinden wird aus meinem Herzen. So sehr wie ich meine Mutter manchmal gehasst habe, sie war am Ende wohl doch meine Freundin. Ich würde ihr zu gern von meinen Erlebnissen im Auslandssemester erzählen. Von all den Plänen, die ich noch habe. Auch wenn sie mich vielleicht kritisieren und nerven würde, sie würde mir zuhören. Denn genau das ist das Schwere am Alleinsein. Dass einem niemand zuhört. Man bleibt allein mit seinen Gedanken.

    Ab und an ist es gut für sich zu sein, zu reflektieren und sich selbst besser kennenzulernen. Aber es ist auch gut, sich dann wieder unter Menschen zu wagen. Denn letztendlich wissen wir nie, wie lange wir noch die Zeit dazu haben.

    Fotos: privat

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