Advocatus Diaboli
Neujahrszeit bedeutet oft ein Zurückkehren in die Stadt der Kindheit und Jugend. Wenn man wie ich aus der ostdeutschen Provinz kommt und in Leipzig lebt, kann das einen kleinen Kulturschock bedeuten.
Dabei komme ich noch nicht einmal aus einem Dorf, sondern aus einer sächsischen Kleinstadt. Natürlich frustriert es mich, wenn diese Heimat in der medialen Öffentlichkeit als Kaderschmiede der Impfgegnerbewegung wahrgenommen wird. Ich muss allerdings zugeben, dass meine Heimat ein großes Problem mit Impfgegnern, Verschwörungspropheten und im Allgemeinen mit all denjenigen hat, die häufig salopp als „abgehängt“ bezeichnet werden.
Dies wird mir spätestens wieder klar, wenn an den Weihnachtsfeiertagen die Wendezeit thematisiert wird. Zu tief sitzt der Leerverkauf eines ganzen Staates in den Herzen der Menschen.
So weit, so gut. Doch, ehe man sich versieht, stolpert man über zwei, drei Sätze und schon steckt man mitten in einer Grundsatzdiskussion. Dabei hatte ich mir diesmal vorgenommen, nicht darauf einzugehen und nach vier schönen Tagen, mit freundlichem Abschiedsgruß, in die Stadt der Wahl zurückzukehren. Wieder hat es nicht funktioniert.
Dann sitzt man dort, mit AfD-Onkel Herbert, der nach vier Bier auch gerne mal „scherzhaft“ dazu aufruft, mit Fackeln zur neuen Flüchtlingsunterkunft zu laufen. Der Magen des „links-grün versifften“ Großstädters fängt sich an zu drehen. Mir ist schlecht, ich will bloß weg hier. Dabei liebe ich doch diese Stadt, diese Straße, diese Menschen. Erinnere mich an Zeiten, wo ich im Bollerwagen über die sanften Hügel gezogen wurde, im Tiergehege Rehe und Hirsche fütterte und anschließend im Biergarten „Holzmühle“ einen Kinderteller mit Dino-Nuggets und Pommes verschlang. Flüchtlingskrise, Klimawandel und Reichsbürger gab es in den Köpfen der Menschen noch nicht. Greta Thunberg spielte mit Bauklötzchen im Kindergarten. Und auch Onkel Herbert war eine liebreizende Person. Schon damals mit einem kleinen Bäuchlein, am Gartenzaun lehnend. Mit einem Nicki, das bedruckt war mit Sprüchen wie: Bier formte diesen wundervollen Körper. Eigen, aber nett. Man dachte sich als Kind nichts Böses. Die Welt war simpel. Für uns.
Heute sieht das anders aus. Zwischen den Realitäten von Ballungsraum und Hinterland, gebildet und weniger gebildet, Kosmopoliten und solchen die es nicht sind, liegen Welten. Zunehmend haben Menschen aus Großstädten mehr mit Menschen gemeinsam, die in anderen Großstädten überall auf der Welt leben als mit den eigenen Nachbarn, fünfzig Kilometer außerhalb der Stadt. Wenn Gespräche vermieden werden, um nicht weiter zu spalten, stelle ich mir die Frage, ob wir das Diskutieren miteinander verlernt haben?
Ich öffne einen Tab und schaue im Browser nach, wo das Wort „diskutieren“ eigentlich herkommt.
Da steht geschrieben, dass das lateinische Verb discutere so viel bedeute wie „zerschlagen, zerspalten“.
Scheinen wir auf Social Media Plattformen also alles richtig zu machen, denke ich mir und lese weiter. Erst im Spätlateinischen kam dem Wort die Bedeutung „erörtern und untersuchen“ zu Teil.
Von meinem Elternhaus bis zum Parteibüro einer rechtsextremen Partei sind es keine dreißig Minuten zu Fuß.
Irgendwo habe ich gelesen, dass es ein gutes rhetorisches Training ist, die eigene Überzeugungsposition zu überprüfen, indem man die Haltung des Gegenübers einnimmt. Advocatus Diaboli nennt man das. Der Anwalt des Teufels. Wie dieser fühle ich mich manchmal. Gerne möchte ich für all diese Menschen aus meiner Heimat sprechen. Ich bin einer von ihnen. Fahre ich dann an jenem Parteibüro vorbei, merke ich, dass das aber eben nicht immer so einfach ist. Trotzdem fühlt sich alles so vertraut an. Irgendwie geht es um alles und alles macht irgendwie keinen Sinn. Gibt es jetzt ein Wir, oder mehrere Wir‘s?
Ich blicke nicht mehr durch. Ich schließe den Tab und suche nach einer Zugverbindung. Ich finde eine für morgen zehn Uhr dreiunddreißig. Das klingt gut. Die werde ich nehmen. Zurück in die Blase.
Fotos: Vincent Frisch
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.