• Menü
  • Leipzig
  • Sieh herab und denk zurück

    Das luhze-Januarthema handelte von Erinnerungen, in denen man schwelgt, oder die man versucht loszuwerden. Dieser Artikel nimmt die Leipziger Stolpersteine in den Blick.

    Johannes Erich Palusczyk ist eines von schätzungsweise 300.000 Euthanasieopfern, die während des Nationalsozialismus ermordet wurden. Heute hält ein Stolperstein in Leipzig-Lindenau, seinem ehemaligen Wohnort, die Erinnerung an ihn und sein Schicksal lebendig.
    Das Projekt Stolpersteine wurde 1992 durch den Berliner Künstler Gunter Demnig initiiert. Die Steine stellen kleine Gedenktafeln dar, die an Einzelschicksale der in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgten, ermordeten oder vertriebenen Menschen erinnern. In der Regel werden sie vor den letzten Wohnhäusern der Opfer in den Gehweg eingelassen. Seit Beginn des Projekts wurden in insgesamt 27 europäischen Ländern über 75.000 Stolpersteine verlegt, womit das Projekt Stolpersteine als größtes dezentrales Mahnmal der Welt gilt.
    Als Palusczyks Tochter Inge Hubner von den ersten Berliner Stolpersteinen erfuhr, wollte sie auch für ihren Vater, der 1940 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein ums Leben gekommen war, einen Gedenkstein in Leipzig errichten lassen. Ihre Anfrage wurde 2001 vom Kulturausschuss abgelehnt, da dieses Projekt, so der Beschluss, zu stark auf die dunklen Zeiten der Leipziger Geschichte hinweisen würde. Erst 2005 entschied sich der Leipziger Stadtrat auf Forderung der Grünen und SPD zu einer Beteiligung am Erinnerungsprojekt. 2006 wurden die ersten Steine verlegt, darunter auch der von Palusczyk.

    Das Foto zeigt einen kupfernen Stolperstein eingelassen in eine Gewegplatte. Eine weiße Rose mit grünen Blättern liegt am Stein. Auf dem Stein steht: "Hier wohnte Erich Palusczyk, Jg. 1902, ermordet 1940, (dann folgen zwei Zeilen, die ich nicht lesen kann)".

    „Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen. Und wenn du den Namen lesen willst, musst du dich vor dem Opfer verbeugen.“
    Gunter Demnig

    Die Stadt Leipzig beauftragte das Archiv Bürgerbewegung Leipzig, das sich bis dahin hauptsächlich mit DDR-Geschichte beschäftigte, mit der Umsetzung der Gedenkaktion. Der Historiker Achim Beier ist einer der sechs Projektmitarbeitenden der Arbeitsgruppe Stolpersteine. Er ist für Organisation, Re­cher­che und Verlegung derselben, sowie für die Bildungsarbeit in Schulen zuständig. Als Initiator*innen neuer Gedenksteine fungieren meist Familienangehörige, Schulklassen oder andere Interessengruppen, die sich bei Achim Beier melden. „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal eine Idee für einen Stolperstein suchen musste. In der Regel reagiere ich auf externe Impulse und das ist auch gut so“, sagt er im Gespräch mit luhze.
    Zwei Mal jährlich werden je acht bis zehn neue Stolpersteine verlegt, deren Planung teilweise mehrere Jahre Vorlaufzeit benötigt. Das Einlassen der Gedenksteine wird durch eine kleine, musikalisch untermalte Zeremonie begleitet, um einen weiteren Moment der respektvollen Erinnerung an ein Einzelschicksal zu schaffen. Die Stolpersteine werden durch Privatspenden finanziert, ein Exemplar kostet 120 Euro. Jeder Interessierte kann Ideen für neue Steine einbringen und damit weitere Gedenkstätten erschaffen.
    Achim Beier erinnert sich besonders an die emotionalen Momente, die ihn während seiner Arbeit begleiten. Er erzählt von Schüler*innen, die sich im Rahmen von Seminararbeiten mit den Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetzten und Ideen für neue Stolpersteine hervorbrachten und von Familienverbänden aus anderen Kontinenten, die seine Arbeit in Anspruch nehmen. „Wir erfahren insgesamt sehr viel Dank für unsere Hilfe. Eigentlich kann ich mit meiner Arbeit nur alles richtig machen.“
    Gunter Demnigs Idee diente zu Beginn des Erinnerungsprojekts, so Beier, vor allem zur Provokation. Indem die Stolpersteine den öffentlichen Raum zierten, sollte aus der Konfrontation ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für die Gräueltaten vor der eigenen Haustür geschaffen werden. „Im Laufe der Jahre hat sich das gewandelt. Die Erinnerungskultur ist etabliert und die Provokation weicht der aktiven Beteiligung eines jeden Willigen“, erklärt Achim Beier – „Die Einzigartigkeit der Stolpersteine liegt heute in dem Kreieren kleiner Gedenkstätten, die nicht durch Institutionen, sondern durch Laien erschaffen werden. Darin steckt ein ungeheures Potential, das die Erinnerung viel nachhaltiger und intensiver macht.“

    Bilder: Charlotte Paar

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    Von Inseln zu Kontinenten

    Im Thema-Ressort der Maiausgabe widmet sich luhze der Frage, welche Interessen bei der Bebauung des Wilhelm-Leuschner-Platzes aufeinandertreffen. Die Universität Leipzig will ihre Standorte verbinden.

    Hochschulpolitik Leipzig Thema | 17. Mai 2021

    „Wissen ist eingebettet in Praktiken“

    Im Thema-Ressort der Januarausgabe haben wir uns mit Wissen beschäftigt. Ulrich Demmer, Leiter des ethnologischen Instituts der Universität Leipzig, spricht über das Konzept kognitiver Gerechtigkeit.

    Thema Wissenschaft | 2. Februar 2021