Alles oder Nichts?
Sinnsuche mit offenem Ausgang: Das Theaterstück „Portraits of Nothing” in den Cammerspielen Leipzig wirft die großen Fragen des Lebens auf.
„Sag ja zu Schnaps, sag ja zu Leistung, sag ja zu metaphysischer Obdachlosigkeit.“ Die beiden Protagonisten Bavink und Japi brüllen zu rockiger Musik all ihre aufgestauten Emotionen in das Mikrofon. Das sich gerade noch angeregt unterhaltende Publikum wird vom Anfang des Stücks überrollt und schon bald mitgerissen von dem Strom an Gedanken, der sich von der Bühne in den kleinen Theatersaal der Cammerspiele Leipzig ergießt.
Die Premiere des Zweipersonenstücks „Portraits of Nothing“, inszeniert von Mona Li, findet an einem frühlingshaften Abend Ende Februar statt. Darin erzählt der Maler Bavink in der Retrospektive von seiner Freundschaft mit Japi, einem Menschen, der nichts tun und nichts sein will. Der Prozess des nostalgischen Erinnerns ist für ihn zugleich kritische Selbstreflektion. Eine Zeit der Freiheit und rebellischen Antihaltung wird kontrastiert mit einer von Resignation und Assimilation geprägten Gegenwart. Bavink geht nicht wie einst voller Leidenschaft seiner Kunst nach, sondern fertigt stattdessen wie am Fließband Porträts der „feinen Gesellschaft“ an.
Die Erzählung beginnt mit dem Aufeinandertreffen der Protagonisten zu einem nicht genauer definierten Zeitpunkt Anfang des 20. Jahrhunderts in den Niederlanden. Dies überlässt Vieles der Imagination der Zuschauer. Ein Effekt, der auch durch eine nur spärlich ausgestaltete Bühne verstärkt wird. Auf die Rückwand der Bühne sind abstrakt eine Küchenzeile und einige Gemälde aufgemalt und als Requisiten dienen einzig und allein ein mit Alltagsgegenständen gefülltes Regal, ein Stativ und einige Farben und Pinsel. Japi „der Schnorrer“ ist aus Bavinks Perspektive ein äußerst „wunderlicher Mensch“. Der nur allzu menschliche Instinkt, das Gegenüber einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zuzuordnen, ist bei Japi zum Scheitern verurteilt: Er sagt von sich selbst, dass er weder Anarchist noch Künstler noch Naturfreund sei. Wer ist er dann? Ein System mit dem Anspruch, reibungslos zu funktionieren, muss diese Frage stellen, denn es kann keine unbekannten Variablen akzeptieren. Stattdessen muss kategorisiert, verwertet und funktioniert werden. Dabei funktioniert Japi auf seine ganz individuelle Art und Weise. Seine Tage verbringt er mit schlafen, essen und rumhocken. Sein Glück findet er in der radikalen Loslösung von Erwartungen, welche seine Umwelt versucht, ihm notfalls auch mit Gewalt aufzuzwingen.
Bavink hält sich verzweifelt an der Hoffnung fest, zumindest in seiner künstlerischen Arbeit Erfüllung zu finden. Aber schon bald wird deutlich, dass auch der Bereich der Kunst, die letzte Bastion der freien Selbstverwirklichung, immer mehr dem Effizienzdruck des kapitalistischen Systems nachgeben muss. Und so verbindet die Freunde nicht nur die Verachtung der Normalgesellschaft, sondern auch der Verlust identitätsstiftender Glaubenssätze. Eine Zeit lang gelingt es den beiden, sich in ihre persönliche Parallelwelt zu flüchten und sich dort ganz dem Genuss des Lebens hinzugeben. Sie trinken, rauchen und reisen um die Welt. Aber nicht einmal dieser hedonistische Lebensstil kann sie von der harten Wirklichkeit gesellschaftlicher Zwänge und Mühen befreien. Japi nimmt auf Druck seines Vaters einen Job an und fällt so in das von ihm detailreich beschriebene „Tal der Pflichten“, welches ihn zu verschlingen droht.
Lichteffekte und Musik unterstreichen die Melancholie und Hilflosigkeit, von der die Protagonisten zunehmend erfasst werden. Selbstbestimmung und die Macht über den eigenen Körper ist letztendlich alles, was Japi noch geblieben ist. Er verlässt das Leben nicht mit einem Sprung, sondern mit einem einzelnen Schritt von einer Eisenbahnbrücke. Sinnbildlich scheint dieser letzte Schritt für die konsequente Umsetzung von Japis Lebensphilosophie zu stehen: Wer nichts ist, kann auch nicht verschwinden. Der Tod kann an dieser Stelle als eine Metapher für schmerzhafte, aber unausweichliche Entscheidungen betrachtet werden. An anderer Stelle verkaufen die beiden Freunde ein Gemälde, das nur aus zwei Streifen und einem Klecks besteht, für unglaublich viel Geld. Eine Hommage an das Nichts, ein Hinterfragen von Sinn und Zweck der Kunst selbst?
In der Redundanz bestimmter Worte und Situationen wird deutlich, dass sich der Versuch Bavinks, ein Porträt seinen Freundes Japi zu erschaffen, den Dimensionen von Zeit und Raum entzieht. Die Subjektivität menschlicher Wahrnehmung wird in der Vermischung verschiedener Handlungsebenen aufgezeigt. Eine Idee, welche auch durch einen Papierrahmen, welcher die gesamte Vorderseite der Bühne umgibt, unterstützt wird. Im Hindurchschreiten durch diesen Rahmen, betreten und verlassen die Protagonisten immer wieder den losen Handlungsstrang, den die Erzählung Bavinks vorgibt. Dass der Zuschauer dabei trotzdem nicht den Überblick verliert, daran hat auch die beeindruckende Leistung der beiden Schauspieler ihren Anteil.
Die Inszenierung will in ihrer Konzeption keine klaren Antworten geben, sondern die Zuschauer vielmehr einladen, aus einer idealistischen Perspektive die eigene Lebenswirklichkeit zu hinterfragen. Ich würde mir wünschen, dass auch in der Gesellschaft eine solche Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe bestände. Dann nämlich würde Japis Vermögen, die Natur zu betrachten, genauso wertgeschätzt werden wie die Renditen kapitalistischer Großkonzerne. Denn – das hat man am Ende des Stückes begriffen – von der Sonne, dem Fluss, und all den großen und kleinen Wundern des Lebens zu hören, kann äußerst beglückend sein. Am Schluss des Stücks sind in absoluter Dunkelheit nur noch mehrsprachige Stimmen zu hören. Eine von ihnen stellt die Frage, ob alles „limitless“ sei. Dieser Abend war es auf jeden Fall.
Foto: Mathias Schäfer
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