Das Pisten-Einmaleins
Auf den weißen Hügeln der Skigebiete herrschen andere Gesetze. Einen kleinen Überblick verschafft sich Kolumnistin Annika nach investigativer Recherche vor Ort.
Kaum ist die Hoffnung auf einen weißen Winter in Deutschland verloren, weil das höchste der Gefühle eine graue, matschige Masse am Straßenrand ist, wird die Skisaison eingeläutet. Von Dezember bis April bevölkern Menschen auf Skiern oder Snowboards die blauen, roten und schwarzen Pisten Österreichs oder der Schweiz, um sich dann in einer der zahlreichen Après-Ski-Bars an der Seite der Talabfahrt die Kante zu geben. Wer schon einmal im Skiurlaub war, weiß, wovon ich rede. Das ist ein ganz eigener Kosmos für sich. Wo sonst tanzen Leute im Altersspektrum von 18 bis 58 in dicken, schweren Tretern und Bommelmütze zu „Das rote Pferd“ und stürzen sich dabei Shots den Rachen hinunter, die sich „Honig Willy“ nennen?
Auch ich habe mich nach langer Zeit mal wieder in dieses Ski-Universum begeben, allerdings mit viel Zögern und Überlegen. Man kann dem Geld bei einer Woche Ferien in Tirol nämlich beim Sich-selbst-auflösen zuschauen. Mit den DDR-Skischuhen von meiner Mutter gehe ich in den Intersport. „Wolltsa mit den Dingern auf die Pischte?“, fragt mich der junge Mitarbeiter im starken Dialekt. „Ja schon“, sage ich zögernd. Mich davor warnend, wie ich mir mit den Retromodellen an meinen Füßen sämtliche Knochen brechen werde, zeigt er mir die neuesten Hightechmodelle der Saison. Als er den Preis nennt, fallen mir fast die Augen aus dem Kopf. Ich bleibe also bei meinen Schuhen, nehme sehr alte Skier und Stöcke und stiefele schlecht gelaunt aus dem Laden.
An der Kasse der Gondel, schraubt sich meine Laune noch mal ein paar Stockwerke tiefer. „Wie viel soll das kosten?“, frage ich entnervt, als mir die Mitarbeiterin den Preis für den fünftägigen Skipass nennt, den ich dummerweise brauche, um überhaupt auf die Pisten zu kommen. Nachdem alles besorgt ist, kann es losgehen. Und ich bin ehrlich. Die Hänge runterzusausen, macht einfach unfassbar viel Spaß. Allerdings gibt es dabei einiges zu beachten, denn es treiben sich verschiedene Charaktere auf den Pisten herum, mit denen es unterschiedlich umzugehen gilt.
Am auffälligsten sind wohl die Skischulen, die sich die Hügel entlang schlängeln wie sehr lange Raupen. Angeführt werden sie häufig von einem Skilehrer, der tiefbraun gebrannt ist, außerordentlich weiße Zähne hat und die Stöcke hochhält, um anzuzeigen, wo es langgeht. Schwer zu überholen, ohne eine Massenkarambolage zu veranstalten. Dasselbe Exemplar dieser Raupe gibt es auch in Form von Familien, oft angeführt vom überambitionierten Vater, der schon während der Abfahrt den Pistenplan in der Hand hat und die perfekte Route für den perfekten Skitag zusammenstellt. Dabei schaut er aber wenig nach rechts und links und nimmt mit seinem übergroßen Rucksack voller selbst geschmierter Brote viel Platz auf der Piste ein. Seine Kinder verhalten sich nicht anders, allerdings liegt es hier eher an gerade erst erlernten Ski-Skills. Sie fahren den Eltern hinterher, die Skier immer in der sogenannten Pizza, einem Dreieck, um abzubremsen. Es sei ihnen verziehen.
Dann gibt es die älteren Herrschaften. Sie fahren seit zwanzig Jahren in das gleiche Skigebiet. Die Inhaber*innen der Pension Alpenblüte (Name frei erfunden) erkennen sie jedes Jahr wieder, weshalb ein Extrastück Schokolade auf dem Kopfkissen liegt. Diese Generation kennt die Pisten wie ihre Westentasche und schimpft gerne über zu schnell fahrende Raser. Die sind nämlich ebenfalls mit von der Partie. So schnell wie sie hinter einem angerast kommen, sind sie aber auch schon wieder vorbeigedüst.
Eine letzte sehr auffällige Gruppe sind die Trickser. Sie geben sich nicht mit regulären Pisten ab, dort fehlen nämlich die Rampen. Eine gute Abfahrt ist nur dann eine gute Abfahrt, wenn sie ein paar waghalsige Sprünge enthält. Hier tummeln sich auch viele Snowboarder. Zugegeben: Aus dem Sessellift heraus sehen die Sprünge über die großen Kicker aber auch verdammt cool aus. Bei meinem Versuch, so einen Hüpfer zu wagen, hat sich genau in dem Moment mein Schal gelöst und sich mir vor die Skibrille gelegt. Blödes Timing. Ich bin hingefallen.
Je später es wird, desto leerer werden auch die Pisten. Die Familien nehmen den Bus heim, um in riesige Schwimmbäder zu fahren, in denen die Eltern in der Sauna schwitzen, während die Kleinen, die auf Skiern noch nicht genug Action hatten, bunte Rutschen runtersausen. Währenddessen lassen sich die Älteren bei kräftigen Kräuteraufgüssen mit einem Handtuch und heißer Luft das Hirn aus dem Kopf wedeln, um danach wie betäubt ins Bett zu fallen. Wer auf diese Prozedur keine Lust hat, muss aber noch nicht nach Hause. In voller Skimontur geht es in eine der zahlreichen Après-Ski-Absteigen, wo man das Hirn mindestens genauso schnell loswird wie in der Sauna. Wer noch nicht abgeschreckt ist von den einfallsreichen Namen der Pisten-DJs und sich durch zahlreiche „Flying Hirsch“ und deutschen Schlager kämpft, wird mit vollen Tanzflächen belohnt, auf denen es bestialisch riecht, weil schon wieder das nächste Teil Skiunterwäsche in die Ecke fliegt, während sich alle immer weiter entkleiden und „DJ Abfahrt“ währenddessen querfeldein durch das Partymusikrepertoire schreddert.
Oft gibt es aber ein paar schöne Tische, unter Heizpilzen, etwas abgelegen, wahlweise auch Liegestühle, von denen aus sich das Spektakel Aperol schlürfend gut beobachten lässt. Während ich so an meinem Strohhalm nuckele und mit meinen Retroschuhen zu „It’s My Life“ von Bon Jovi mitwippe, überlege ich, ob ich mir das wohl nächstes Jahr nochmal leisten kann. Mal schauen.
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