Memetic Warfare
In Europa wütet ein Angriffskrieg, der vor allem durch Memes begleitet wird. Für Kolumnist Dennis ist das aber kein Galgenhumor, sondern eine entscheidende Kriegstaktik.
Ich öffne Twitter. Ich sehe ein Video von einem Typen mit Fluppe im Mundwinkel, der eine scharfe Mine, die ihn samt waghalsigem Kameramann bei der geringsten falschen Bewegung in Stücke reißen könnte, über die Straße trägt, als wäre sie ein Berg schmutziges Geschirr – irre. Ich scrolle weiter, sehe, wie sich der ukrainische Botschafter mit „mehr funktionierende Panzer als die Bundeswehr“ subtil über die Bundeswehr lustig macht, nachdem ukrainische Farmer immer wieder russische Panzer klauen – ich like. Darunter ein heroisches Meme über den ukrainischen Präsidenten Selenskyj, der als jene Person dargestellt wird, über die sich die Figur aus dem Gigachad-Meme Sorgen machen sollte – wird geteilt. Es folgt ein Foto von gestapelten toten russischen Soldaten in einer Behelfsleichenhalle. Direkt danach wieder ein Meme – dieses Mal über den Ghost of Kjiew, einen Kampfjetpiloten, der sechs russische Jets abgeschossen haben soll – krass!
Ich schließe Twitter und öffne Tiktok. Sehe ein Video aus einem Hochhaus in Kjiew gefilmt. Unten begegnen sich ein russisches und ein ukrainisches Militärfahrzeug, das eine gibt Schüsse auf das andere ab, das getroffene legt den Rückwärtsgang ein, wartet, und fährt weiter als sei nichts gewesen. In den Kommentaren schreibt jemand „Busfahrer, wenn sie sich in der Stadt begegnen“. Dann noch ein Video von einer russischen Rakete, die kurz nach dem Start von der übermächtigen Scherkraft eingeholt wird und unter Fluchen der Umstehenden auf dem Boden aufschlägt. Kommentiert ist das Video mit „Wenn du deine Raketen in China kaufst“. Schließlich betrachte ich noch eine Aufnahme von Jugendlichen, die aus dem Auto heraus filmen, wie sie russische Panzer mit Molotovcocktails eindecken.
Der Ukrainekrieg ist wohl der bestdokumentierteste Krieg überhaupt, alles wird gefilmt, nichts bleibt verborgen. Leid und Elend des Krieges sieht man aber primär in den Nachrichten, während es auf Social Media eher nach einem bizarren, fast schon surrealen Schauspiel aussieht. Besser gesagt, alles wirkt wie nach einem Drehbuch, in dem Selenskyj, der Komiker, aus Versehen Präsident geworden, gemeinsam mit den Klitschkos einen ungleichen Kampf gegen das Böse in Form des Vorzeige-Bondbösewichts Putin führt und regelmäßig Schwarzenegger-Sprüche klopft („Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“), während sein Volk ausschließlich aus Badass-Charakteren besteht, die mit Molli und Kalaschnikov bis aufs Blut für die Freiheit kämpfen. Und währenddessen sitzt die ganze Welt gespannt mit Popcorn vor Twitter und Tiktok und fiebert mit diesem Echtzeit-Call of Duty mit und hofft, dass sich das Ganze nicht zu einem dritten Weltkrieg aufschwingt. Tatsächlich erinnert mich das Ereignis mit der Dauerpräsenz in den traditionellen Medien an den 11. September, auch damals hat in den nachfolgenden Wochen jeder darüber gesprochen und es gab weitreichende Konsequenzen für die Weltordnung, die wir bis heute spüren. Lediglich Social Media gab es damals noch nicht.
Als kritischer Studierender mit Angehörigen, die den zweiten Weltkrieg noch aktiv miterlebt haben und auch über die üblen Lebensbedingungen in der Zeit und danach eindringlich berichtet haben, drängt sich einem natürlich die unvermeidbare Frage auf: Ist das nicht alles ein zynischer und unangemessener Umgang mit der Situation, schließlich sind schon tausende Menschen gestorben und Millionen haben ihre Heimat verloren?
Nun, die Antwort lautet jein. Wir sollten uns nämlich eines klar machen – einen Krieg gewinnt man nicht nur auf dem Schlachtfeld, zumindest nicht auf jenem in der Kohlenstoffwelt. Mittlerweile ist jeder Krieg auch hybrid und wird von einem Informationskrieg begleitet. Was früher das Propagandaplakat war, ist heute das Meme, dass sich organisch in den sozialen Netzwerken verbreitet. Schon vor Kriegsbeginn hat die ukrainische Regierung regelmäßig über ihre Accounts Memes gegen Russland gepostet und natürlich sind die auch eine gute Möglichkeit, Kriegspropaganda zu verbreiten, durch das Setzen bestimmter Frames. Wie etwa der Underdog-Actionheld Selenskyj, der mit seiner Armada von Traktorfahrern und Molotovmischern die vermeintlich größte Armee der Welt bekämpft. Die Ukraine ist schließlich militärisch klar in der Defensive und braucht somit zum einen starken Zusammenhalt im Inneren und zum anderen den Support von außen.
Dass Memes bei diesem Unterfangen eine zentrale Rolle einnehmen, ist nicht neu. Bereits 2017 hatte das „Stratcom COE Defense Stategic Communication Journal“ der NATO Memes als wichtigen Teil strategischer Operationen bezeichnet, um gezielt Informationen oder Desinformationen zu verbreiten, um so auf das gewünschte Narrativ einzuzahlen.
Und das ist ziemlich clever, denn Memes sind leicht zu konsumieren, sie verbreiten sich fast von alleine und das Betrachten von unterhaltsamem Kram ist doch einer der Hauptgründe, warum wir ins Netz gehen.
Natürlich ist ein Krieg kein Meme, auch wenn er mir täglich im Smartphone so rüberkommt, und die Meme-Maschinerie kann auch nicht über das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer hinwegtäuschen. Aber Memes spielen möglicherweise eine Rolle dahingehend, wann und wie der Krieg ausgehen wird. In diesem Sinne bitte ich euch, euch zu informieren, zu engagieren und auch Memes zu teilen. Slawa Ukrainij!
Foto: Privat
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