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  • Cancel Culture im Filmformat

    „A Hero“ ist die Geschichte eines jungen Mannes, der im Bestreben, alles richtig zu machen, alles falsch macht. Ein dicht konstruiertes moralisches Drama, voll Sympathie für menschliche Schwächen.

    Der Protagonist Rahim Soltani (Amir Jadidi) wird bei seinem Freigang aus dem Gefängnis begleitet. Er hat nicht beglichene Schulden, wegen denen er eine Haftstrafe absitzen muss. Rahims Freundin Nazanin (Sarina Farhadi) hat eine Tasche mit Goldmünzen gefunden, mit denen er seine Schulden abbezahlen und somit seine Haftstrafe beenden könnte und Rahim beginnt, darüber nachzudenken, sie für seine Zwecke zu nutzen. Eine Besonderheit des iranischen Rechtssystems ist die Möglichkeit, sich mit Geld von einer Strafe freizukaufen. Das gilt sogar für Mörder*innen, sofern die Angehörigen des Opfers zustimmen. Die Ehre spielt in diesem System ebenfalls eine besondere Rolle, Vertrauen ist hier mit das wichtigste Gut und dementsprechend kostbar. Recht früh jedoch beschließt Rahim, von seinem Gewissen geplagt, den Besitzer der Münzen ausfindig zu machen. Begeistert von Rahims Ehrlichkeit, wird er von der Öffentlichkeit plötzlich als moralisches Vorbild betrachtet, und bekommt allerlei Aufmerksamkeit in den Medien, die ihm letzten Endes sogar ein Jobangebot verschafft. Doch als Zweifler von ihm verlangen, nachzuweisen, dass sich tatsächlich alles so abgespielt hat, wie er behauptet, gerät der junge Mann in die Bredouille. In diesem Geflecht entspinnt sich „A Hero“ beginnend in einem Gefängnis außerhalb der Millionenstadt Schiras.

    Der etwas naive Rahim trifft im Laufe der Geschehnisse immer wieder unvorsichtige Entscheidungen. Eine kleine Unwahrheit bedingt die nächste, eine kleine Täuschung verlangt nach einer weiteren. Dass Rahim nichts aus Böswilligkeit tut, er keinerlei fragwürdige Absichten verfolgt, macht ihn zu einer typischen Figur des iranischen Kinos und besonders von Asghar Farhadi, der die Auswirkungen von gesellschaftlichen Moralvorstellungen und Ansprüchen an einen Einzelnen aufzeigt.

    Rahims Lügen, die ein*e Zuschauer*in ganz ohne Zweifel als das deuten kann, was sie sind – kleine Notlügen, um andere innerhalb der sehr strikten Moralvorstellungen der traditionellen iranischen Gesellschaft zu schützen – erreichen ungeahnte Dimensionen. Auch in anderen Filmen wie „Elly…“ oder „Nader und Simin – Eine Trennung“ schafft Farhadi es, seine Figuren gleichermaßen naiv und gutgläubig wiederholt Entscheidungen treffen zu lassen, die sich im Nachhinein als ungünstig entlarven lassen, und so dafür zu sorgen, dass die Figuren durch ihr eigenes Handeln getrieben von dem Druck einer ganzen Gesellschaft ein immer tieferes Loch graben, aus dem zu entkommen irgendwann kaum noch möglich scheint.

    Und so geschieht es auch in „A Hero“, der seinen Helden Rahim so selbstlos und heroisch darin wirken lässt, immer wieder das zu tun, von dem er glaubt, das andere es wollen. Farhadi schafft Einblick in einen Iran, dessen Gesellschaft ebenso sehr von den unschönen Nebenwirkungen der sozialen Medien geprägt ist wie die westliche Welt. Obwohl es nicht Rahim selbst war, der mit seiner noblen Tat hausieren gegangen ist, werden er und seine moralischen Wertvorstellungen als berechnend verurteilt. Viele mächtige und medienpräsente Organisationen lenken den unsicheren Mann, im Versuch seine positive Reputation für die Verbesserung des eigenen Rufes zu nutzen. Als sein Notlügengeflecht über ihm zusammenbricht, wenden sich alle genauso schnell wieder von ihm ab und so schnell er durch die sozialen Medien zum Helden hochgeschrieben wurde, so schnell zerstört ein gestreutes Gerücht, das den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte in Frage stellt, alle Hoffnungen. Was hier passiert, ist Cancel Culture in Reinform. Wie Menschen immer wieder aus nachvollziehbaren Gründen das Falsche tun, wird in diesem Film so deutlich, dass man seine eigenen Verurteilungen hinterfragen möchte, um bloß niemandem ein Schicksal wie das des Rahim Soltani zu bereiten. Als er am Ende nur noch seine Ehre zurückwill und sich weder für das Geld noch seine Freiheit interessiert, hinterfragt Farhadi auf äußert gelungene Weise die Rolle der sozialen Medien in moralischen Fragen.

    Auffällig ist der wenige Einsatz von Musik. Atmosphäre entsteht durch schauspielerische Glanzleistungen des Hauptdarstellers, durch die man sich den Emotionen des Protagonisten so nah fühlt, dass man bedrückt den Verlauf seiner Misere verfolgt.

    Die Geschichte lässt einen gespannt verfolgen, die Wendungen und der Ausgang lassen einen hinterfragen und bleiben auch nach dem Abspann im Kopf. „A Hero“ ist eine kinematographisch und schauspielerisch wahnsinnig gelungene Kritik an der Verurteilung von menschlichen Schwächen und als Denkanstoß für gesellschaftskritische Denker*innen nur zu empfehlen.

    Foto: Neue Visionen

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