Weißraum schaffen
Kolumnistin Adefunmi fühlt sich in letzter Zeit in vielerlei Dingen unsicher und überfordert. Gemeinsam mit ihren Freund*innen tritt sie dem Gefühl entgegen.
Ich sitze im Zug nach Köln und freue mich, für fast eine Woche zwei meiner besten Freund*innen zu besuchen. Die letzten Wochen waren nicht leicht für mich. Ständig war ich krank und ich fühlte mich überfordert. Überfordert von den Aufgaben, zu denen ich immer wieder Ja sage, vom Gedanken, dass meine Zeit als Studentin fast vorbei ist und manchmal auch von den Menschen, die mich umgeben. Die Welt und die anderen und alle und ich. Ich habe das Gefühl, ständig wollen alle etwas von mir, am meisten ich selbst. Und ich will allem und jedem gerecht werden, immer. „Das kann doch gar nicht klappen“, ruft mir Captain Obvious zu, „du erwartest viel zu viel von dir!“
Am Abend meiner Ankunft fahren wir zur Boulderhalle. In der Pause nach zwei kniffligen Routen erzähle ich von meiner Überforderung und meiner Unsicherheit, nicht genug zu sein und plötzlich breche ich mitten in der Halle in Tränen aus. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich nicht reflektiert, warum mir gerade alles so schwerfällt. Ich habe mir nicht erlaubt, das Gefühl wirklich anzunehmen. Ich werde aufgefangen. Ich werde daran erinnert, zärtlich mit mir selbst zu sein. It’s ok not to be ok. Aber das ist leichter gesagt als getan.
In diesem Moment ist allerdings eine Last von mir gefallen. Und die Tage in Köln sind plötzlich etwas leichter. Meine Freund*innenschaft nährt mich. Wir verbringen viel Zeit auf Dächern, mit Frühstücken, Yoga machen, uns sonnen, Sonnenuntergänge genießen und sind nachts aneinander gekuschelt. Wir gehen an den Rhein, feiern von morgen bis abends eine Garten-Geburtstagparty und reden über unsere Schwierigkeiten. Wir sind füreinander zärtlich, auch wenn wir es mit uns selbst nicht immer sein können.
Wir wissen alle nicht, was wir mit unserem Studium anfangen sollen und eine meiner besten Freund*innen zweifelt auch daran, es fertig zu schaffen. Müsse sie nicht viel mehr machen, noch mehr Zeit rein investieren, am Wochenende Paper lesen und alles bis ins kleinste Detail wissen. Fast am Ende des Masters sollte es doch mal so weit sein, weil hätte sie ihn sonst verdient? Nur ist diese Vorstellung nicht realistisch. Warum erwartest du Superhuman zu sein, wenn es sonst keine*r ist? Wenn niemand diesem Ideal entsprechen kann, irgendwo auch noch Zeit fürs Leben sein muss und das Ganze nicht mal deine Passion ist.
Wir richten an uns gegenseitig die Worte, die wir selbst hören müssen. Nachricht an mich selbst: „Du hast keine Superkräfte und das ist vollkommen in Ordnung.“ Anstatt das zu akzeptieren, glaube ich nach Jahren der Unordnung, mich nur endlich mal richtig organisieren zu müssen. Aber ich stelle fest, dass ich, auch wenn ich alle To-dos schön ordentlich in Spalten und Reihen farbig sortiere, immer noch auf eine Seite ohne Weißraum blicke.
Ich schreibe eine neue Liste mit der Frage, was ich eigentlich möchte und was mich glücklich macht. In dieser stehen viele gute Dinge: Ich möchte einmal die Woche bouldern, Schwere und Traurigkeit akzeptieren, mich locker fühlen und voller Leichtigkeit, weniger Medien konsumieren, und eine gute Zeit mit mir selbst verbringen. Ich stelle mir eine Perfektion vor und möchte alles ändern, jetzt sofort. Ich stelle mir vor, dass ich früh aufstehe, aber komplett ausgeschlafen. Ich gehe eine Runde joggen oder mache Yoga im Park inklusive Minimeditation. Schnell noch das Bett richten, ein kleines Frühstück und ran an die Arbeit meiner 20-Stunden-Stelle. Abends schreibe ich Tagebuch. Und irgendwo dazwischen ist noch Platz für luhze und Freund*innen. Wo genau, weiß ich aber auch nicht.
Ich stelle fest, dass sich manche Momente in dieser Woche mit meinen Freundinnen bereits so ziemlich perfekt angefühlt haben. Sie waren davon geprägt, von tollen Menschen umgeben zu sein, dem Gefühl, loszulassen und den ganzen Druck unserer Leistungsgesellschaft mal zu vergessen. Meine Lebensoptimierungsvorstellungen haben keine Rolle gespielt.
Habe ich mir zu viele neoliberale – Du kannst immer produktiv sein und alles schaffen – Carpe Diem – Nutze alles und lass dir keine Pause – How to be that girl-Podcasts und -Videos reingezogen? Warum glaube ich, dass das realistisch wäre und warum sollte ich diesem Optimierungsdrang folgen? Stress in Sachen Self-Care ist immer noch Stress.
Ich stelle fest, dass ich gar nicht genau weiß, was für mich ein gutes Leben bedeutet. Vielleicht muss ich das erst mal neu definieren, abseits von Bildern aus Filmen, Instagram, und den in meiner Kindheit erlernten Vorstellungen. Diese neue Definition dann auch zu leben, ist wieder leichter gesagt als getan. Meine bisherigen Vorstellungen sind in meinem Kopf verankerte Autobahnen. Alternative Wege auszubauen ist kräftezehrend und auf der Autobahn geht es doch so viel schneller. Aber dafür ist auf der Umleitung die Aussicht sehr viel schöner.
Fotos: Privat
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