Das Denken der Gedanken
Also denke, nie gedacht zu haben, denkt sich Kolumnistin Annika, während sie in dieser Kolumne ihre Gehirnstränge miteinander verknotet.
Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch nie so richtig Gedanken gemacht, höre ich mich sagen, während ich mir währenddessen auf meiner imaginären To-Do Liste notiere, mir dazu unbedingt mal einen Kopf zu machen. Warte was?
Wie muss ich mir das genau vorstellen, zu einem Thema ein paar Nervenenden meines Hypothalamus miteinander zu verknüpfen, um das Endergebnis dann gebündelt in einer der vielen Schubladen meiner Hirnkommode zu verstauen? So stelle ich mir das zumindest in meinen Gedanken vor. Irgendwo muss ich sie ja schließlich sammeln. Glaube ich zumindest. Macht das noch Sinn?
Okay, vielleicht war es bis hierhin etwas wirr, deswegen starte ich einfach nochmal neu. Ich bin kein unreflektierter Mensch, ganz im Gegenteil, wenn ich mit Leuten über bestimmte Themen spreche, sind diese oft genervt davon, dass ich mitten im Reden abbreche und das eigene Gesagte nochmal überdenke. HA! Mir also Gedanken mache. Eine Diskussion mit mir selbst führe. Um dann meinem Gegenüber meinen Standpunkt zu erklären. Oder meine Gefühle. Was ich eben so denke. Und das ist auch gut. Manchmal denke ich dann, dass ich mir so Dinge, die ich da so versuche den Leuten zu erklären, wobei ich mich manchmal frage, ob es nicht besser wäre, es zu tanzen oder pantomimisch darzustellen, wenn ich mich schon wieder in meinem Gedankensalat verheddere, aufschreiben sollte.
Hat wer noch den Anfang des Satzes gerade im Kopf gehabt? Ich nämlich nicht mehr. Das heißt, es scheint wohl egal zu sein, ob ich mir Gedanken aufschreibe oder sie laut in Gesprächen ausspreche. Immer sind sie so durcheinander.
Deswegen nochmal zum Anfang. Wie muss ich mir das aktive und womöglich sogar erfolgreiche Gedankenmachen vorstellen? Setze ich mich auf einen Stuhl in einen möglichst leeren Raum, um nicht abgelenkt zu werden? Vielleicht sollte man sich mal einen Denkraum mieten. Ja, sowas sollte es geben. Ein leerer Raum also, mit einem Stuhl in der Mitte. Was würde da im Kopf passieren?
Ich betrete den Gedankenraum.
„Hm, jetzt sitze ich hier. Ganz schön leer dieser Raum. Wie lange muss ich denn jetzt hier bleiben? Kann ich gehen? Wow, der Stuhl ist echt unbequem. Ich setz mich mal gerade hin. Nee, das ist anstrengend. Wie viele Quadratmeter der Raum wohl hat? Wenn man die Wände anmalen würde, könnte er ganz schön cool aussehen. Vielleicht mit Graffiti. Ich war noch nie Graffiti sprühen. Das sollte ich echt mal ausprobieren. Aber was ist, wenn ich erwischt werde? Kriege ich dann eine Strafe? Das wird bestimmt ganz schön teuer sein. Obwohl, als ich letztens ohne Licht gefahren bin, waren es nur 15 Euro. Das war aber auch unfair. Als ich das Polizeiauto gesehen habe, bin ich extra abgestiegen. Ich sollte mir auf jeden Fall ein Fahrradlicht besorgen. Das Licht hier in dem Raum ist auch nicht gerade schön. Fenster wären super. So fühlt man sich ja wie in einer Psychiatrie. Also so klischeemäßig. Sieht das da wirklich so aus? Nee Quatsch. Wie viel Zeit wohl schon vergangen ist? Mist, ich habe keine Uhr dabei (Das Smartphone muss man im Gedankenraum natürlich auch draußen lassen, sonst wäre ja alles umsonst). Ich trage aber auch nie Armbanduhren. Früher hatte ich eine regenbogenfarbene. Hey, letztens habe ich einen Doppelregenbogen gesehen. Was ist wohl die maximale Anzahl an Regenbögen, die gleichzeitig am Himmel sein können? Okay stopp, sollte ich mir hier nicht mal Gedanken darum machen, wie es mir gerade so geht. Oder was ich mit meinem Leben demnächst so anfangen will? Uff, nee das kann ich auch später noch machen. Wenn ich aus dem Gedankenraum raus bin, hier ist es ja mega stressig. Okay okay, denk nach. Vielleicht ein gesellschaftspolitisches Thema. Wie sieht es denn gerade eigentlich mit der Genderdebatte aus? Gendere ich eigentlich schon in meinen Gedanken? Gute Frage. Das sollte ich unbedingt mal meine Mitbewohner fragen, wenn ich wieder raus bin. Ich glaube, ich geh auch mal, langsam ist gut.“
Ich stehe auf und verlasse aufatmend den Raum. Draußen nehme ich mein Handy in die Hand und schaue auf die Uhr. Drei Minuten? Okay, das hat sich länger angefühlt. Automatisch bewegt sich mein Daumen Richtung Instagrambutton. Sinnlos scrolle ich den Feed herunter. Drei Minuten später schließe ich die App. Und habe nichts gedacht. Zumindest kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber vorhin, da habe ich mich gefragt, wie viele Regenbögen wohl gleichzeitig am Himmel sein können. Nicht der intellektuellste Gedanke auf der Welt, aber wer stellt denn überhaupt die Ansprüche?
Während ich hier so sitze und mir Gedanken übers Gedankenmachen mache, denke ich darüber nach, ob das nicht zu viel Nachdenken ist. Neigen wir nicht sowieso alle zum Overthinking? Für heute also genug gedacht. Mal gucken, wann ich das nächste Mal denke, denke ich, während ich merke, wie ich ja immer noch am Denken bin.
„Nächste Haltestelle: Leipzig Hauptbahnhof“. Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Man, ich glaube, ich war gerade kurz vor einer großen Erkenntnis.
Genervt nehme ich meine Tasche und mache mich auf in Richtung Denkraum. Da kann man wenigstens ungestört denken.
Fotos: Privat
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