Lebendiges Erinnern
In der luhze-Aprilausgabe berichteten wir über die Ausstellung "Offener Prozess" zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes. Sie ist noch bis zum 22. Mai im GfZK zu besichtigen.
Wenn Rassismus eine ideologische, erlernte Einstellung des Hassens und Ausgrenzens ist, kann er dann auch verlernt werden und wie kann das gelingen? Diesen Fragen geht die Ausstellung „Offener Prozess“ ausgehend vom NSU-Komplex aus den Perspektiven der Opfer und ihrer Angehörigen nach.
Direkt am Eingang der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) läuft ein Film mit dem Titel „Kein zehntes Opfer“. Er zeigt mit Handykameras aufgenommene Szenen der Demo in Kassel. 2006 hatten sich die Angehörigen der neun Opfer der NSU-Mordserie selbst organisiert und trugen deren Porträts auf Plakaten durch die Straßen. Mediale Berichterstattung fand laut dem Begleittext des Videos kaum statt. 4.000 Menschen seien hier zusammengekommen. Solidarische Anwesenheit nichtmigrantisch weiß gelesener Menschen ist in den aufgenommenen Szenen nicht zu erkennen.
Auch die weiteren Stationen der Ausstellung bestehen aus Leinwänden oder Bildschirmen, auf denen in Dauerschleife aus migrantischen Perspektiven von rechter und rassistischer Gewalt und dem Widerstand dagegen berichtet wird. Wer die Tonspur hören möchte, kann sich einen der bereitliegenden Kopfhörer aufsetzen.
Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der ostdeutschen Realität. Es kommen aber auch Gastarbeiter*innen und ihre Familien in den alten Bundesländern zu Wort. Die Videos sind von verschiedener Qualität: Manche sind professionell aufgenommen, bei anderen wurde mit der Handykamera draufgehalten. Franziska Zólyom, Direktorin der GfZK, betont, wie wichtig es sei, dass eine deutsche Öffentlichkeit Zuhören als politische Praxis und Erinnern als Prozess versteht. „Die Auseinandersetzung mit Rassismus und rechtem Terror muss mit dem Erlernen von migrantisch situiertem Wissen beginnen.“ Dazu müsse vorher ein Verlernen stattfinden. Das Konzept des Verlernens der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivaks besagt, dass sich Menschen durch ihre Privilegien von anderem Wissen abschneiden. Durch kritisches Hinterfragen von Privilegien, gesellschaftlichen Positionen und Machtverhältnissen könne eine fruchtbare Auseinandersetzung mit Rassismus und rechtem Terror gelingen. Lehrmaterial dazu liefert das Methodenhandbuch zur Ausstellung von Hannah Zimmermann und Martina Klaus.
Weitere Informationen zu den Morden sowie Texte von Hinterbliebenen sind auf einem Denkmal zu entdecken. Dieses ist aber digital und muss durch ein dabei liegendes Tablet sichtbar gemacht werden. Dadurch können die Inhalte später erweitert werden.
Das „Tutorial Takdir. Die Anerkennung“ beginnt mit Aufwärmübungen zur Aussprache türkischer Buchstaben. Anschließend sind die Zuschauenden aufgefordert, gemeinsam mit der Frau im Video die neun Namen der aus der Türkei und Griechenland immigrierten Opfer der NSU-Mordserie auszusprechen. Diese Station der Ausstellung will laut Ausstellungsvermittlerin Van Pham darauf hinweisen, dass in der medialen Berichterstattung zum NSU-Komplex die Namen der Opfer und ihrer Angehörigen zu oft falsch ausgesprochen oder geschrieben worden sind.
„Offener Prozess. Ausstellung zum NSU-Komplex“ ist noch bis zum 22. Mai in der Galerie für Zeitgenössische Kunst zu besichtigen, jeden Nachmittag außer Montag. Ab Juli ist die Ausstellung dann in der serbischen Stadt Novi Sad zu sehen. Auf der Homepage des Projekts www.offener-prozess.net ist eine Online-Version der Ausstellung zu finden. Ebenso kann man sich hier den begleitenden Chatbot herunterladen. Wenn man in diesen die Hashtags, welche überall in der Ausstellung zu finden sind, eingibt, erhält man weiterführende Informationen.
Fotos: GfZK
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.