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  • Balancieren will geübt sein

    Kolumnistin Hanni vergleicht sich mit einer Hochseiltänzerin und fragt sich dabei, wie eine gute Balance im Leben bei so vielen Erwartungen noch zu erreichen ist.

    Manchmal fühle ich mich als wäre mein Leben das einer Hochseiltänzerin.

    Irgendwie muss ich immer alles ausgleichen. Noch einmal Sport die Woche, weil dieser mir guttut, oder überfordere ich meinen Körper? Brauche ich jetzt wirklich mal eine Pause oder sollte ich diesen Vortrag doch erst fertigstellen? Treffe ich mich ausreichend oder sogar nicht genug mit meinen Freunden? Wie oft kann ich „Ja“ und wie wenig kann ich „Nein“ sagen, um hilfsbereit zu sein, nicht egoistisch zu wirken und trotzdem auf mich selbst zu achten? Tue ich das für mich oder tue ich das nur für andere? Wie oft kann ich andere nach Hilfe fragen und meine Probleme offenbaren, ohne dass ich sie damit belaste? Macht mir diese neue Freizeitaktivität Spaß, weil ich etwas erlebe, oder bin ich dadurch nur im Stress?

    Zuversicht hilft mir jederzeit – ganz klar, wie die Luft hier oben auf dem Hochseil. Aber was mir nicht so klar erscheint, ist die Balance, wenn ich den ersten Fuß auf das Seil setze. Ein Blick nach unten und ein mulmiges Gefühl breitet sich in der Magengegend aus.

    Kolumnistin Johanna sitzt auf einer Picknickdecke, hält eine Schale mit Bananenbrot in den Händen und grinst in die Kamera.

    Balance, baby! Gibt es eine Ausgewogenheit zwischen zu viel und zu wenig Bananenbrot?

    Balancieren will geübt sein – logisch, denn nichts funktioniert ohne Übung. Aber um richtig üben zu können, braucht man Sicherheit zum Ausprobieren. Und Sicherheit? Wer oder was ist denn das Auffangnetz dort unten kurz vor dem Boden? Weil runterfallen möchte ich eigentlich auch nicht unbedingt oder wenn, dann wenigstens, ohne mir dabei alle Knochen zu brechen. Also muss ich doch mein eigenes Auffangnetz sein. Aber könnten nicht auch ein paar Freunde da unten stehen? Schon wieder ein Balanceakt, schon wieder ein Abwägen von Autonomie und Abhängigkeit.

    Nun stehe ich hier und schaue erst das Seil an, dann meine Hände. In einer halte ich meine Bedürfnisse, in der anderen die meiner Freunde – für eine Balancierstange bleibt keinen Platz. Und von unten ruft die Gesellschaft mir noch ausdrücklich zu, dass ich mich möglichst beeilen soll und meine Darbietung auch noch ästhetisch vollführt werden muss. Zack, zack! Zier dich nicht so! Mit mehr Eleganz, bitte! Applaus ist sonst nicht drin. Erwartungen von mir selbst und von anderen minimieren meine Aufregung definitiv nicht.

    Hilft ja aber nix: Die Entscheidung, wo ich meinen Fuß als nächstes hinsetze, muss erfolgen ­– ganz egal, ob mein Bein zittert oder nicht. Sonst bleibe ich stehen und Stagnation in dieser Höhe klingt auch nicht sehr verlockend.

    Wir brauchen Balance im Leben. Balance aus Arbeit und Freizeit, aus Liebe für andere und Liebe für uns selbst, mit Sicherheit auch aus Rationalität und Emotion. Und diese Balance im Leben herzustellen – und auch beizubehalten – sieht ehrlich gesagt ziemlich knifflig aus. Hochseiltanzen ist nicht umsonst eine Kunst und erfordert viel Mut.

    Und wenn ich diesen Akt der Balance nicht vollbringe, was dann?

    „Naja, Balance. Schönes Wort eigentlich. Und wichtig fürs Leben.“, denke ich, richte die Augen nach vorn und balanciere einfach drauf los.

    Foto/ Grafik: Johanna Tandler

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