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  • Chaim Weinberger und seine Kinder

    Für die Reportage der luhze-Juniausgabe waren wir dabei, als Gunter Demnig wieder Stolpersteine in Leipzig verlegte.

    Schon aus der Straßenbahn heraus sehe ich die kleine Gesellschaft von ungefähr dreißig Leuten, die sich an der Ecke Thomasiusstraße Ecke Käthe-Kollwitz-Straße an diesem sonnigen Montag versammeln. Die Arbeitsgruppe Stolpersteine in Leipzig des Vereins Archiv Bürgerbewegung hat eingeladen, der Verlegung von sieben sogenannten Stolpersteinen bei­­­zuwohnen. Das Projekt wurde 1993 durch den Berliner Künstler Gunter Demnig initiiert. Die Steine mit der messingfarbenen Oberseite stellen kleine Gedenktafeln dar, die an Einzelschicksale der in der Zeit des Nationalsozialismus vertriebenen, verfolgten oder ermordeten Menschen erinnern sollen.

    Die Musiker*innen

    Als ich näherkomme, dringen Klänge an mein Ohr. Veronika Petzold an der Geige und Heiko Guter mit seinem Akkordeon spielen jüdische Stücke und Weltmusik. „Seit zwei oder drei Jahren sind wir bei den Stolpersteinverlegungen in Leip­­zig und Umgebung musikalisch dabei“, erklärt Petzold. Ihr Repertoire orientiere sich lan­destypisch an der Herkunft der Personen, derer gedacht werden soll, könne aber im Allgemeinen als melancholisch be­zeichnet werden.

    Der Meister

    Gunther Demnig hockt auf dem gehweg und hat gerade die gedenksteine gewässert, um sie sauber zu kriegen.

    Das Andächtige liegt im Tun.

    Ein Mann in beigefarbenem Hemd und ebensolcher Hose sucht aus seinem roten Transporter sieben goldene Gedenksteine heraus. Das ist Gunter Demnig, der von einigen als „der Meister“ bezeichnet wird. Währenddessen sind Andreas Parnt und ein weiterer Helfer damit beschäftigt, mit Stemm­eisen und Hammer einen halben Quadratmeter Gehsteig­pflaster aufzubrechen und zu entfernen. Mit einer Kelle be­sei­tigen sie dann den Splitt und stemmen noch feste Teile des Bodens weg. Der Untergrund wird aufgelockert.
    Dann tritt der Meister an die Baustelle, hockt sich auf seinen Knieschutz und schiebt den Kies hin und her. Es ist das erste Mal seit Beginn der Pandemie, dass er wieder selbst die Steine verlegt. Demnig setzt die Stolpersteine Probe. Um Kies aus einem seiner Eimer in die klei­ne Grube streu­en zu können, nimmt er die Steine wieder he­­raus. Nachdem er sie wieder eingesetzt hat, nickt er und haut die sieben Stolpersteine mit einem Schon­hammer fest. Es bleiben ein paar Lücken zur Pflasterdecke. Demnig füllt sie mit Stücken von Granitporphyr, die er aus einem weiteren Eimer auswählt. Nicht jedes Steinchen passt auf Anhieb.

    Die Mitarbeiter*innen

    Die Musik verstummt und Achim Beier schaltet ein Mikrofon ein. Beier gehört zu den sechs Projektmitarbeiter*innen der Arbeitsgruppe Stolpersteine, die seit 2006 existiert. Er ist für Organisation, Recherche und Verlegung der Steine zuständig und leistet auch Bildungsarbeit in Schulen. Beier erzählt, dass hier an diesem Ort Familie Weinberger wohnte – in einem Haus, an dessen Platz sich heute ein Gebäude mit Einkaufsmöglichkeiten befindet.

    Chaim Weinberger

    Chaim Weinberger wurde am 1. August 1876 in der Stadt Nowy Sacz im heutigen Polen geboren. Seine erste Ehefrau verstarb früh. Mit seinen drei Kindern Leon (*1902), Aron (*1905) und Sali (*1908) zog Chaim 1918 von Wrocław (Breslau) nach Leipzig, wo er die Galizierin Frymy Schaja heiratete. Sie hatten zwei gemeinsame Kinder: Toni (*1922) und Israel „Isi“ (*1927). Chaim war Inhaber eines Textilwarenunternehmens und Vorsteher einer Synagoge. Seine Söhne Leon und Aron betrieben ein auf Bettwäsche und Tischdecken spezialisiertes Geschäft. Über Frymy ist bekannt, dass sie Berufskleidung verkaufte. Die drei älteren Kinder der Familie konnten Deutschland wenige Jahre nach der Macht­ergreifung der Nationalsozialis­ten verlassen. Doch Sali, die mit ihrem Mann nach Frankreich emigriert war, wurde mit 35 Jahren am 31. Juli 1943 in Drancy interniert, dann nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. An dieser Stelle des Vortrags schwankt Beiers Stimme. Die Bemühungen von Frymy und Chaim Weinberger mit ihren jüngsten beiden Kindern Deutschland 1938 zu verlassen, scheiterte an fehlenden finanziellen Mitteln. Ihre Flucht über Italien in die Schweiz im Juli 1939 endete an der dortigen Grenze. Chaim musste in Norditalien bleiben. Seine Frau und die Kinder Toni und Israel kamen nach Süditalien, wo sie im September 1943 durch die britische Armee aus dem Internierungslager Ferramonti di Tarsia befreit wurden. Sie erreichten über Zypern 1946 Palästina. Chaim Weinberger wurde nach Auschwitz deportiert und dort eine Woche später, am 6. Februar 1944, ermordet.
    Durch intensive Recherche brachten Beier und sein Team diese Informationen zusammen. Vom eingehenden externen Impuls bei der Ar­beitsgruppe bis zur Verlegung vergehen in der Regel zwei Jahre, da auch die Stadtverwaltung ins Bild gesetzt werden muss. Erst 2005 entschied sich der Leipziger Stadtrat zur Beteiligung am Erinnerungsprojekt. Seit damals ist der Verein Archiv Bürgerbewegung Leipzig mit der Umsetzung beauftragt. Die Steine werden von privaten Sponsoren finanziert. Ein Stein kostet 120 Euro. Darin seien alle Leistungen inbegriffen: Materi­al, Herstellung, Fahrt­kosten, Einbau, Gehälter der Mit­ar­beiter*innen und Steuern.
    Um die Gehwegdecke zu schließen, fegt Meister Demnig Kies in die Lücken. Während die musikalische Untermalung wieder einsetzt, haut er die Stolpersteine noch weiter ein, sodass ein physisches Stolpern unwahrscheinlich wird, und fegt den restlichen Kies auf ein Kehrblech. Aus einem bereitstehenden Wasserbottich befeuchtet er seine Schaf­fens­stelle. Die goldene Färbung des Kupfers kommt hervor. Demnig zückt ein Taschentuch und poliert nach.

    Die Nachfahren

    Ein Junge filmt die Arbeiten mit seinem Handy. Seine Familie und die von Jovita, der Tochter von Aron Weinberger, stehen in einem engen Verhältnis zuei­nander. Jovita Weinberger ist aus Argentinien angereist, um der Stolpersteinsetzung beizuwohnen. Die Angehörigen treten einzeln vor den Gedenkort und legen weiße Rosen ab. Viele foto­grafieren, auch Daniel, der schon seit ein paar Jahren die Stolpersteinsetzungen auf Fotos festhält und bei Wikipedia einstellt. Er möchte aus Gründen der Anonymität seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Daniel berichtet, dass bei Verlegungen während der Pandemie in Leipzig sehr selten Angehörige anwesend gewesen seien. Das sei sonst anders, sagt Achim Beier: „In der Regel kommen viele Angehörige. Ich schätze mal, bei zwei Drittel der Ver­legungen ist Familie dabei.“

    Das Publikum

    Daniel hat heute die Verlegung aller 29 neuen Steine begleitet – beginnend in Mark­kleeberg, über den Leipziger Westen bis hin zum Augustusplatz. Jetzt kann Leipzig 643 Gedenksteine an 226 Orten sein Eigen nennen. Die Reaktionen der Passant*innen seien großteils positiv, sagt Marion Kunz, die auch zur Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine gehört. Sie geht auf Vorbei­gehende zu und fragt sie, ob sie Interesse an weiteren Informationen haben und wüssten, was hier passiert. Sie erzählt von der Reaktion eines Mannes: „Der sagte mir ‚Ne, bleib weg! Ich warte auf meine Frau.‘“ Aber insgesamt seien 60 Prozent interessiert, 20 Prozent der Leute sagen, dass sie die Stolpersteine schon kennen würden, und 20 Prozent hätten kein Interesse.
    Wenn man selbst eine Idee für einen Stolperstein hat, nimmt man Kontakt mit Achim Beier über die Home­page der Arbeits­gruppe Stolper­steine in Leipzig auf. Bei neuen Vorschlägen müsse man sich jedoch gedulden, da Beiers bisherige Planungen bis in das Jahr 2025 reichen.
    Nach dem Stillstehen für einige Fotos steigt Meister Demnig in seinen Wagen und fährt zum nächsten Einsatzort an der Jahnallee.

    Fotos: Franz Hempel

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