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  • Mehr Momente, weniger kaputte Kulis

    Kolumnistin Laura ist umgezogen und hat dabei festgestellt, dass es einen Unterschied zwischen Einpacken und Wegpacken gibt.

    Wenn ich Dinge in Kisten verpacke, dann normalerweise entweder, um sie wegzupacken oder, um sie vorübergehend wegzupacken und sie irgendwann wieder hervorzuholen. Unabhängig von der ursprünglichen Intention, schrumpft die Wahrscheinlichkeit, die alten Geburtstagskarten oder das erste eigens gekaufte Theaterticket jemals wieder anzuschauen, auf gen null, sobald der Deckel zu ist. Da gilt die Devise: aus den Augen aus dem Sinn.

    Das wird mir klar, als ich den ersten Karton für meinen Umzug packen will. Umziehen: Das bedeutet ein ganz anderes Einräumen – ein Einpacken, kein Wegpacken. Das ist von vornherein begrenzt. Ich weiß, spätestens wenn ich eine ermahnende Uni-Mail erhalte, muss ich das ausgeliehene Buch aus der untersten Ecke des Kartons kramen.
    Noch bevor ich überhaupt eine leere Pappschachtel aus dem Keller holen kann, mache ich die absurde Erfahrung, ganz viel auspacken zu müssen, um einpacken zu können. Ich muss ganz vieles wiederentdecken, um es zurücklassen zu können. Da sind die alten Schulhefter, von denen ich dachte, ich könnte sie für die Uni super gebrauchen, obwohl die Realität ist: Wenn ich wissen will, wie Fotosynthese funktioniert, dann schaue ich bestimmt nicht in meine Notizen aus der 8. Klasse. Da sind die Winterstiefel, die ich mal als meine Lieblingsschuhe bezeichnet habe und die mittlerweile zwei Nummern zu klein sind. Da ist der Kuli aus England, der schon in der zweiten Woche meines Auslandaufenthaltes nicht mehr schrieb und den ich dennoch nicht wegwerfen konnte.

    Kolumnistin Laura lächelnd mit Gitarre und Leinwand auf dem Rücken und Kopfhörer im Ohr. Sie hat ein weiß-schwarz gestreiftes T-Shirt und eine hellblaue Jeans, unter der gelben Schiebermütze gucken kurze braune Haare hervor.

    Gitarre und Leinwand dürfen bleiben.

    Sobald ich diese Kisten vom Schrank gehievt und geöffnet habe, sitze ich zwischen den Stühlen. Das liegt nicht nur daran, dass ich mich auf dem Fußboden befinde. Ich schaue mir gerade Dinge an, die mir vor gar nicht so langer Zeit viel bedeutet haben. Jetzt soll ich also abschätzen, ob sie es wert sind, in die kleinere Wohnung mitzukommen. Auch wenn ich die Schuhe gerade hässlich finde und den leeren Stift sinnlos – wer weiß, vielleicht bereue ich morgen, alles weggeworfen zu haben?

    Ich versuche mir einzureden, dass ich für Erinnerungen keine Gegenstände brauche, dass ich mich an die Gespräche mit meiner besten Freundin aus Schulzeiten und an den Ausflug auf die Zugspitze auch ohne Hefter und Schuhe erinnern kann. Also bin ich mutig und werfe weg. Bemerke, wie da auch Tage später gar kein Vermissen ist und denke darüber nach, ob ich all das Zeug eigentlich jemals wirklich brauchte. Da ist so viel Krimskrams, der noch nie nützlich war, von dem ich aber stets hoffte, er würde es eines Tages werden. Ich bemerke, wie ich keine Lust mehr habe, darauf zu warten und dass ich mehr Momente und weniger zu kleine Schuhe und kaputte Kulis haben will.

    Plötzlich fällt das Aussortieren leicht. Nicht nur Erinnerungsgegenstände, auch Dinge, von denen ich bis gestern dachte, sie seien extrem wichtig für meinen Alltag. Wer braucht schon 14 Hosen oder 43 T-Shirts? Mindestens die Hälfte davon packe ich in Beutel und Kisten, werde sie spenden gehen. In diesen Tagen kommt es mir absurd vor, wie sehr ich in den letzten Jahren versucht habe, gegen alle Eventualitäten abgesichert zu sein, für jeden Anlass alles dabei zu haben. Erst, als ich das alles zusammenpacke – ich packe es weg, nicht ein – merke ich, wie sehr ich mich an Materiellem festgeklammert habe.

    Am Ende bleiben rund ein Dutzend Kartons, die mit in die neue Wohnung sollen. Zu erkennen, dass 20 Jahre in zwölf kleine Kisten passen, ist für mich zunächst erschreckend. Ich frage mich, was in der Welt von mir bleibt, wenn ein Jahr nicht einmal eine Kiste füllt. Gleichzeitig fühle ich mich unglaublich befreit von einem großen Berg an Klamotten, Zetteln, alten CDs und Kopfhörern, bei denen nur noch eine Seite funktioniert. Ich weiß, da sind unendlich viele Kisten, unzählige Erinnerungen in meinem Kopf, die ich zwar nicht anfassen, aber doch irgendwie ertasten kann. Die bleiben mir lebendig auch ohne all die Gegenstände. Schon allein in den Gesichtern meiner Freunde oder in Phrasen, die wir uns angewöhnt haben.

    Eine Woche später sitze ich vor einem Karton mit Erinnerungen aus der Schulzeit, die ich dann doch aufgehoben habe. Es ist der letzte, den ich auspacken muss. In meinen Händen halte ich das erste Theaterticket, das ich mir jemals selbst gekauft habe. Kurz denke ich darüber nach, ob ich es nicht doch noch in den Müllsack stecken soll. Dann nehme ich mir eine Wäscheklammer und hänge es – gut sichtbar – neben all die Postkarten an die rote Schnur an meiner Wand.

    Fotos: Laura Schenk

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