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  • Parallele Sommer

    30 Grad und Sonnenschein bedeuten nicht für alle das Gleiche. luhze-Kolumnistin Sarah fehlt Verständnis für die Legende vom bunten „Hypezig“.

    Vor ziemlich genau einem Monat haben Zoll, Landeskriminalamt, Polizei und Steuerfahndung auf der Eisenbahnstraße und der Georg-Schumann-Straße insgesamt 23 Razzien in Bistros, Spätis, Shisha-Bars und Co durchgeführt. 270 Beamt*innen waren im Einsatz. Es fielen Schlagworte wie Mindestlohn, illegale Beschäftigung von Ausländer*innen, unerlaubter Aufenthalt und Steuerhinterziehung. Für einige Betriebe gab es einen Durchsuchungsbeschluss, bei einem Großteil der Betroffenen ist die Polizei aber ohne vorherigen Verdacht angerückt.

    Im Nachgang habe ich einige Personen aus meinem Umfeld gefragt, ob sie etwas von den Razzien mitbekommen hätten – alle verneinten. Auch ich selbst bin nur zufällig über die Berichterstattung gestolpert. Denn die Karli, der florierende Gastronomiehotspot, in dessen Nähe ich selbst wohne, wurde bei den Kontrollen natürlich ausgelassen. Dort sitzen in warmen Julinächten weiterhin Menschen ungestört an den vielen Tischen vor Bars und Restaurants und genießen ihren ganz eigenen Sommer. Die Besitzer*innen müssen nicht fürchten, dass die Polizei aus heiterem Himmel die Straße dichtmacht und Geschäfte durchsucht. Denn die hat offensichtlich vor allem Gegenden im Visier, in denen viele migrantisierte Personen leben und arbeiten.

    Im Endeffekt ist „Hypezig“ eben eine mit viel Luft gefüllte Blase, die Ekel in mir weckt. Ich will nicht sagen, dass die Stadt damit allein ist. Strukturelle Diskriminierung und daraus resultierende Parallelrealitäten gibt es überall. Aber immer wieder höre ich von Menschen, dass sie unbedingt nach Leipzig ziehen wollen, weil die Stadt so „alternativ“ sei. Personen, die schon hier leben, speisen gerne das Narrativ um die angebliche Vielfalt der Stadt, in der es im Sommer nur so wimmle vor Flohmärkten und Open Airs – eine Realität, die für sie stimmen mag, für andere nicht.

    Mit Sonnenbrille sieht man wenig.

    Als Zugezogene lebe auch ich in einer Studibubble, die bei 30 Grad Sommer, Sonne, Kaktus zelebriert. Und das inzwischen auch ohne Masken- und Testpflicht. Letztere beschränkt nur noch den Zugang zu „vulnerablen Gruppen“, etwa in Werkstätten, Pflegeheimen oder Gemeinschaftsunterkünften. Sie sind als Geflüchtete, be_hinderte oder alte Menschen sowieso schon marginalisiert und leben andere, parallele Sommer.

    In dem einen Sommer kann eine Person mit hohem Corona-Risiko sich kaum noch in geschlossene Räume mit anderen begeben, weil sie an einer Erkrankung sterben könnte. In einem anderen freut sich ein geflüchtetes Kind wahnsinnig auf den letzten Tag des Schuljahres, das es sowieso wiederholen muss, weil es erst seit vier Monaten in Leipzig wohnt. Im nächsten Sommer muss ein Mensch ständig fürchten, dass sein neu eröffnetes Geschäft plötzlich von Polizist*innen durchforstet wird, weil es sich im falschen Stadtviertel befindet. Umso erschreckender, wenn die alles verdunkelnde Sonnenbrille da einmal von der Nase rutscht.

     

    Fotos: Isabel Hockun, Sarah El Sheimy

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