Aus den Sälen auf die Straßen
Das Schauspiel Leipzig hat die Innenstadt zur neuen Spielstätte erklärt. luhze hat mit Chefdramaturg Torsten Buß über die Hintergründe gesprochen und stellt euch zwei Veranstaltungen genauer vor.
Theater ist nicht nur etwas, das man in Sälen mit samtbezogenen Stühlen und Kronleuchtern erlebt. Das will aktuell das Schauspiel Leipzig beweisen. Schon seit Ende Mai macht es mit der Langzeitbespielung „Pay attention!“ die Innenstadt zu seiner neuen Bühne und untersucht die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des urbanen Lebens. Es gibt Gesprächsrunden zum Thema Stadt, einmalige Gastspiele in neuen Spielstätten oder spezielle Nachgespräche zu Stücken mit klarem Leipzig-Bezug. Auch ganz neue Produktionen außer Haus sind entstanden.
„Die Idee kam sehr unmittelbar noch aus der Corona-Erfahrung des letzten Frühjahrs“, sagt Chefdramaturg Torsten Buß. Da das Schauspielhaus selbst Teil der Innenstadt sei, wolle es mit der Erfahrung umgehen, dass dort Vieles nicht möglich war. Dazu habe natürlich das Theaterspielen gehört, aber auch geschlossene Buchläden, Hotels, Kabaretts und Kinos. Aus diesem Ansatz sei unter anderem der Audiowalk „System Innenstadt“ entstanden. „Die Idee war, mit Leuten zu sprechen, die auch während des Corona-Lockdowns noch in der Innenstadt zu tun hatten oder eben nichts mehr tun konnten. Draußen wollten wir andere Geschichten finden als die, die wir auf der Bühne machen und machen können.“
Der Audiowalk ist konzipiert als ein sogenannter „seismografischer Stadtspaziergang“. Wie mit einem Seismografen Bodenerschütterungen gemessen werden, sollen hier mit einem Gang durch die Stadt die vielfältigen Erschütterungen aufgespürt werden, die unter anderem die Pandemie in den Leben der Stadtbewohner*innen hinterlassen hat.
Die Teilnehmer*innen treffen sich im Foyer des Schauspielhauses und folgen dann als Gruppe den Stimmen in ihren Kopfhörern durch die Stadt. Immer wieder ertönen die Stimmen interviewter Bewohner*innen Leipzigs. Da erzählt zum Beispiel ein Student, wie er dank Online-Studium in Leipzig wohnen und in München studieren kann, man begleitet einen Polizisten auf seinem Arbeitsalltag, oder ein Wohnungsloser erklärt, wo man draußen am besten schlafen kann.
Hin und wieder muss die Gruppe entscheiden, wie es weitergehen soll. Was hat sie mehr vermisst: Konsum oder Kunst? Ist eine autofreie Innenstadt Utopie oder Zukunft? Sie teilt sich, geht in kleineren Grüppchen weiter, findet wieder zusammen.
Schlussendlich offenbart sich den Zuhörer*innen auch durch die verschiedenen, konkreten Perspektiven auf Gegenwart und Vergangenheit die Frage nach der Zukunft des Theaters und der Stadt.
„Bei der Arbeit am Projekt kam dann ziemlich bald die Erkenntnis: Es sollte nicht nur um diese Corona-Zeit gehen. Letztendlich kann man ja auch an der Innenstadt Leipzigs selbst merken, dass es da über die Jahre Veränderungen gab“, sagt Torsten Buß. Besonders spannend sei das Areal des Matthäikirchhofs. Hier würden sich tausend Jahre Geschichte schneiden und man könne die Häutungen und Einschnitte der Stadt ganz unmittelbar noch erfahren.
Um diese auch fürs Publikum erlebbar zu machen, hat das Schauspielhaus mit dem Wiener Theaterkollektiv Darum zusammengearbeitet. „Letzter Aufguss“ heißt eine intermediale Vorstellung, in der die Geister des Geländes lebendig werden. Die Zuschauer*innen wandeln im Bademantel durch einen Saunakeller. Dort erzählen ihnen die Schauspieler*innen in dunklen Nischen ihre ferner oder näher gelegenen vergangenen Geschichten.
Ein von der Stasi bespitzelter DDR-Bürger sucht den Sinn hinter der Überwachung seines alltäglichsten Lebens. Eine Tochter Johann Sebastian Bachs erzählt vom Alltag im Armenhaus und betrauert „all die nie gewordene Musik“ in den Köpfen von nicht geförderten Mädchen. Ein ehemals Ostdeutscher berichtet von der Schwulensauna, die nach der Wende im Stasi-Bunker im Matthäikirchhof Einzug hielt. Sie alle sind im Ort des Geschehens vereinigt. Manchmal agieren die Figuren nur wenige Zentimeter von Zuschauer*innen entfernt und lassen dabei das Haus und seine Vergangenheit durch sich zum Publikum sprechen. Zum Teil wird auch direkt auf Reaktionen der Anwesenden eingegangen, um die Erfahrung noch immersiver zu gestalten.
Insgesamt komme das Projekt „Pay attention!“ sehr gut an, sagt Torsten Buß: „Viele aus unserem Haus oder von außerhalb sagen immer wieder: „Wow, ich habe Geschichten über diese Stadt erfahren, die waren mir bislang gar nicht klar.“ Auch er selbst habe seinen Horizont erweitern können. „Es schärft ein Stück weit das Denken. Man hört diese Gedanken und Geschichten und geht dann mit einem ganz anderen Blick durch die Stadt.“
Für letzte Veranstaltungen können Interessierte in den nächsten Tagen eventuell noch Restkarten ergattern. So findet am 13. Juli der letzte Audiowalk vor der Sommerpause statt und am 15. zieht das Projekt „Die Leiden des jungen Azzlak“ für einen Abend in das UT Connewitz um. Wer danach noch am seismografischen Stadtspaziergang teilnehmen möchte, muss sich bis zum neunten September gedulden.
Foto: Philipp Hechtfisch
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