• Menü
  • Kolumne
  • Zu Hause stoße ich mich nicht am Türrahmen

    Vor zehn Monaten ist Kolumnistin Isabella nach Leipzig gezogen. In dieser Zeit ist aus einer fremden, neuen Wohnung ein Zuhause geworden.

    Es ist jetzt fast genau ein Jahr her, dass ich mit meiner Mutter von Berlin nach Leipzig gefahren bin, um Wohnungen zu besichtigen. Ich kann mich noch gut daran erinnern: Die Stadt wirkte fremd, ungewohnt, ich war nie zuvor dort gewesen, kannte mich nicht aus, und alles, wirklich alles war anders als zu Hause. Der Supermarkt hieß plötzlich „Konsum“, der Bäcker „Lukas“, und die Straßen waren breit und offen. Alles wirkte heller, weiter, größer – und gleichzeitig so viel kleiner. Wir sahen uns drei Wohnungen an, und ich sagte zur Sicherheit bei allen zu und war trotzdem nicht sicher, eine zu bekommen, nach den Horrorgeschichten, die ich aus Berlin gehört hatte. Ich bin zu Hause nie umgezogen, Bekannte von mir aber schon, und die hatten von Wohnungssuchen berichtet, die Jahre gedauert haben. Also nahm ich, um meine Chancen zu erhöhen, alle drei Wohnungen an. Und konnte plötzlich zwei wieder absagen. Es ist wohl nicht überall wie in Berlin.

    Kurze Zeit später zog ich nach Leipzig, und dann kam die erste Nacht. Die erste Nacht in meinem eigenen Zuhause. Ich lag auf einer Isomatte auf dem hölzernen Fußboden (mein Bett war noch nicht geliefert worden), starrte an die Decke, deren kleine Risse und Flecken mir noch nicht vertraut waren, und fragte mich, ob sich diese Wohnung irgendwann wie Zuhause anfühlen würde. Ich hatte kein Heimweh (dafür hatte ich meinen Auszug viel zu sehr herbeigesehnt), aber es war alles so fremd. Die Wohnung war schön (sie ist es immer noch, inzwischen habe ich sogar ein Bett), aber sie war kein Zuhause. Ich wusste noch nicht, welche Dielen beim Darüberlaufen knarzen, ich stieß mir jedes Mal den Fuß am Türrahmen meines Schlafzimmers, der irgendwie nie da begann, wo ich ihn vermutete, und in den Sekunden zwischen Aufwachen und Augenöffnen am Morgen dachte ich immer für einen ganz kurzen Moment, es sei alles wie immer, wenn ich die Augen öffne, steht vor mir das vertraute Bücherregal, über mir an der Wand hängt die vertraute Magnetwand mit Postkarten und Fotos, neben mir ist die vertraute Balkontür. Ganz so wie zu Hause. Doch in meiner neuen Wohnung steht das Bücherregal links, die Postkarten und Fotos hängen am Kühlschrank, und einen Balkon habe ich gar nicht.

    Kolumnistin Isabella im Urlaub in den Bergen, im Hintergrund ein sonniges Bergdorf

    Für Kolumnistin Isabella ist Zuhause nicht mehr das, was es mal war

    In dieser ersten Nacht in meiner neuen Wohnung war ich nicht sicher, ob sie jemals ein Zuhause werden würde. Es schien unvorstellbar. Es war einfach alles zu unvertraut. Doch mit der Zeit änderte sich das. Die Risse und Flecken in der Decke kenne ich inzwischen in- und auswendig von schlaflosen Nächten in meiner nicht mehr ganz so neuen Wohnung. Ich weiß genau, welche Dielen knarzen, wenn ich darüber laufe, und der Türrahmen meines Schlafzimmers beginnt endlich da, wo ich ihn vermute. Bevor ich morgens die Augen öffne, spüre ich das Bücherregal zu meiner Linken, ich weiß, dass die Postkarten und Fotos in meiner Küche am Kühlschrank hängen, und ich habe sogar verinnerlicht, dass ich keinen Balkon mehr habe (das ist mir sehr schwergefallen). Wenn ich an Zuhause denke, denke ich nicht mehr an eine Wohnung in Berlin, sondern an eine in Leipzig. Ich denke an eine breite Straße mit vielen Bäumen auf der einen und gar keinen auf der anderen Seite (glücklicherweise wohne ich auf der Seite mit Bäumen), an einen muffigen Hausflur mit Holzboden und an eine helle Wohnungstür, die aus irgendeinem mir nicht ganz klaren Grund ein kleines Fenster hat, das ich eigentlich schon längst zuhängen wollte.

    Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Vielleicht war es die Zeit, die ich in dieser Wohnung verbracht habe, vielleicht sind zehn Monate genug. Vielleicht sind es die Erinnerungen, die ich jetzt mit dieser Wohnung verbinde, die guten wie die schlechten. Vielleicht hat es auch gar nichts mit der Wohnung an sich zu tun, sondern mit den Menschen in Leipzig, mit meinen Nachbar*innen, meinen Kommiliton*innen, und all den anderen Leuten, die ich in dieser Stadt kennengelernt habe. Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber irgendwann zwischen dieser ersten Nacht auf der Isomatte und dem Tag, an dem ich diese Kolumne schreibe, ist „die neue Wohnung“ zu meinem Zuhause geworden. Ich könnte nicht dankbarer sein.

     

    Fotos: Isabella Klose

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    Umzugsgedanken

    Impressionen aus der Zeit zwischen Abitur und Studium: der Duft von Freiheit, Gedanken an den Tod, Umzugsstrapazen und Ersti-Gruppen auf Facebook.

    Kolumne | 6. Oktober 2019

    Eine Ode an abgelatschtes Laminat

    Kolumnist Laurenz suhlt sich erst einmal ganz ausgiebig in seinen Erste-Welt-Problemen. Für das neue Jahr nimmt er sich vor, stets luxuriösen Verlockungen zu widerstehen.

    Kolumne | 2. Januar 2022