Wer studiert denn sowas? – Theaterwissenschaft
Unsere neue Reihe "Wer studiert denn sowas?" nimmt verschiedene Studiengänge unter die Lupe. Wer weiß denn schon, welche Themen andere Studierende alltäglich beschäftigen. Heute: Theaterwissenschaft.
Das „transdisziplinär“ im offiziellen Namen des Studiengangs ist Programm. Theater ist hier nicht nur eine Kunstform, sondern auch ein Ort, eine gesellschaftliche Institution, eine kulturelle Praktik, und wird aus verschiedensten Perspektiven betrachtet, etwa der historischen, anthropologischen oder medienwissenschaftlichen. Das Studium verbindet Kunst und Wissenschaft und bereitet sowohl auf eine akademische Laufbahn als auch auf die praktische Arbeit im kulturellen Bereich vor.
Ein zweimonatiges Praktikum ist Zugangsvoraussetzung, ein weiteres während des Studiums Pflicht. Was den Studiengang in Leipzig besonders auszeichnet, ist der vergleichende Ansatz: Es wird viel Wert darauf gelegt, sich nicht nur mit Theater im heutigen, europäischen Sinn zu beschäftigen, sondern auch mit theatralen Praktiken in anderen Zeiten und kulturellen Kontexten. Außerdem gibt es jedes Semester das Szenische Projekt, das von der Bertolt-Brecht-Gastprofessur geleitet wird. Dabei arbeitet ein*e Theaterpraktiker*in ein Semester lang praktisch mit den Studierenden und am Ende gibt es eine Präsentation.
STIMMT DAS?
„Theaterwissenschaft studieren nur Leute, die es nicht an die Schauspielschule geschafft haben!“
Nein, Theaterwissenschaft ist keine Schauspielausbildung, und nicht alle, die Theaterwissenschaft studieren, wollen Schauspieler*in werden oder überhaupt am Theater arbeiten.
Agnes
„Ich wusste nach dem Abitur nicht, was ich machen soll, hab dann ein halbes Jahr nach dem Abschluss meine ehemalige Deutschlehrerin auf einem Dorffest getroffen, und sie hat gesagt: ‚Du studierst Theaterwissenschaft in Leipzig.‘ Ich glaube, sie wusste einfach, dass das passt, und sie hatte sehr recht, es war die richtige Entscheidung.
In unserer ersten Willkommensveranstaltung wurde viermal der Witz gemacht, dass wir alle Taxifahrer werden. Ich glaube, das ist ein unglaublich wichtiger Punkt in diesem Studium: Dass man für sich selbst studiert. Deshalb sind auch viele sehr lang im Studium, Regelstudienzeit ist bei uns eher so ein Vorschlag.
Was mich stört, ist, dass die Uni den Studiengang nicht fördert. Es gibt genug Leute, die Interesse haben, das sieht man an den Zahlen. Wir haben jedes Semester 30 Plätze und zwischen 200 und 400 Bewerber*innen. Man könnte ausbauen, dann würden auch mehr Leute für den Master hierbleiben.
Die Studienkonzeption ist bei uns sehr offen, und das ist Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite hat man dadurch eine unglaubliche Bandbreite, auf der anderen Seite kommen Leute aus diesem Studiengang raus, die komplett unterschiedliches Wissen haben. Aber das entspricht auch der Philosophie, die wir von Theater haben: Es gibt nicht das eine Theater.
Man kommt mit einem super eingeengten Theaterverständnis ins Studium: Deutsche Klassiker, Goethes Faust, du gehst ins Theatergebäude und siehst da Theater. Theater ist aber auch Alltagsinszenierung: Du ziehst dich auf eine bestimmte Weise an und versuchst, dich damit auszudrücken, ein Bild von dir in die Welt rauszutragen.
Man studiert den Menschen und wie wir uns in der Welt zu uns verhalten, welche Formen von Rollenspielen vorkommen. Das kann im Sinne des klassischen Theaters sein, aber es kann auch sowas wie Geschlechtskonstitution sein oder rituelles Handeln im Rahmen von Festen. Theater ist überall, es geht in alle Bereiche des Menschseins hinein. Es gibt so ein Zitat von Irving Goffman, der sagt: ‚Wir alle spielen Theater.‘ Ich erweitere das gerne und sage: ‚Warum machen die meisten dann so langweiligen Shit?‘ Nutz die Möglichkeit und mach was Spannendes draus!“
FUN FACT
Leipzig gehörte in den 1920ern zu den ersten Orten in Deutschland, wo Theaterwissenschaft betrieben wurde. Die frühe Disziplin unterschied sich allerdings stark von der heutigen: Der Leipziger Theaterwissenschaftler Albert Köster hat mit seinen Studierenden zum Beispiel historische Bühnenformen nachgebaut und Mittelalterspiele in der Aula veranstaltet.
Ingo Rekatzky
„Die Theaterwissenschaft ist ein relativ junges Fach. Die Emanzipation aus der Germanistik heraus war sehr schwierig. Germanistik hat einen geschriebenen Text, aber Theaterwissenschaft setzt sich mit flüchtigen Prozessen auseinander, die an die Physis von Akteur*innen gebunden sind, das lässt sich nicht konservieren.
Außerdem war Theater in der europäischen Kulturgeschichte lange Zeit überhaupt nicht angesehen, unter der Vormacht einer christlichen Kultur war das etwas Diabolisches. Auch deshalb hat sich die Theaterwissenschaft erst sehr spät emanzipiert und einen sehr engen, bürgerlichen Theaterbegriff verfolgt. Das ist ab den späten 70ern, frühen 80ern aufgebrochen worden, sodass Theaterwissenschaft nicht nur Kunsttheater im engeren Sinne betrachtet, sondern dass man schaut: Was gibt es überhaupt an theatralen Praktiken? In welchen Situationen agieren Menschen zur Schau für andere? Es ist eher ein kulturwissenschaftliches als ein kunstwissenschaftliches Studium.
Was wird man mit Theaterwissenschaft? Ich kenne niemanden, die oder der Taxifahrer damit geworden ist, was nicht daran liegt, dass wir keinen Führerschein haben. Dramaturgie, Regie, Theaterpädagogik, das wären so die klassischen Berufe, viele machen aber auch Kulturjournalismus oder Museumsarbeit. Einige gehen auch in die Politik.
Ein Alleinstellungsmerkmal der Leipziger Theaterwissenschaft ist der Schwerpunkt Historizität. Historizität meint, dass man nicht einmal durch die Theatergeschichte rast und fertig, sondern dass man schaut: Wie steht das in Wechselbeziehung zu uns? Was ist das Gegenwärtige am Historischen und umgekehrt? Dann ist Transmedialität bei uns ein wesentlicher Aspekt, also wie Theater im Wechselprozess zu anderen Medien steht, und Theateranthropologie, also: Wie wirkt Theater im Wechselverhältnis zu verschiedenen Menschenbildern?
Vor allem arbeiten wir alle sehr gerne mit unseren Studierenden zusammen, weil sie wahnsinnig offen, interessiert und engagiert sind. Das ist ein schöner gegenseitiger Lernprozess.“
Fotos: L.-N. Meller, I. Rekatzky
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