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  • Die Gegenwart vermissen

    Kolumnistin Sara denkt darüber nach, warum sie lieber an schwitzige Kniekehlen als an ihre To-Do-Liste denken sollte.

    Ich liege in der Sonne, es ist Anfang August und ich vermisse den Sommer. Nicht, weil es nicht heiß genug wäre, sondern weil ich weiß, dass es nicht so bleibt, wie es gerade ist. Es passiert häufig, dass ich beginne, glückliche Momente zu vermissen, noch während sie gerade passieren – so wollte ich diesen Text beginnen und weiter sollte es um Vergänglichkeit, Melancholie und Nicht-genug-in-der-Gegenwart-leben gehen. Ich mochte den Gedankengang. Als ich dann aber versuchte, ihn aufzuschreiben, saß ich fast eine Woche lang jeden Tag ein bisschen unproduktiv vor dem Laptop, habe versucht auszudrücken, was ich meine, und bin daran gescheitert. Jetzt ist es ein Tag bevor die Kolumne fertig sein muss. Ich hatte einen Text fertig geschrieben und war kein bisschen zufrieden mit dem, was da stand. Aber wenn es eine Abgabefrist gibt, will ich die einhalten. Schließlich bin ich gewissenhaft. Ich schreibe mir jeden Tag eine To-do-Liste, auf der neben „Kolumne schreiben“ sogar solche Dinge wie „Geschirr-abwaschen oder „Wäsche aufhängen“ draufstehen.

    Ich möchte glauben, dass ich das tue, weil ich organisiert sein möchte und außerdem gern Punkte auf meiner Liste durchstreiche. Aber wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich bin, ist das eben nicht die ganze Wahrheit. Eigentlich habe ich diese Listen (auch), weil ich Angst habe, sonst in all den alltäglichen Aufgaben unterzugehen, den Überblick zu verlieren und meinen Erwartungen an mich selbst und denen, die andere mir gegenüber haben, nicht gerecht zu werden.

    Kolumnistin Sara sitzt auf einem Teppich vor einem Bücherregal und streichelt zwei Hunde.

    Hundestreicheln hilft gegen Stress.

    Und weil ich so gewissenhaft bin, habe ich eine Prüfungsleistung für dieses Semester auch schon abgegeben. Darin ging es um neoliberale Ansprüche und Hoffnungen. Aus wissenschaftlicher Perspektive und wenn es um andere, nicht mich selbst, geht, habe ich viel Kritik an diesem Gesellschaftsprinzip. Dauerhafter Selbstoptimierungszwang kann ja für niemanden gut sein. Und die erhoffte Perfektion oder auch nur Zufriedenheit kann man sowieso nie erreichen, wenn die Prämisse ist: Du darfst nie aufhören, dich anzustrengen, sonst wirst du abgehängt und bist nichts wert.

    Naja, und um jetzt zu meiner Situation zurückzukommen: Der Grund für mein tägliches Listen-Abarbeiten ist wahrscheinlich nicht wirklich, dass ich gern die einzelnen Punkte durchstreiche, sondern einfach meine Strategie, um (m)einen Leistungsanspruch zu befriedigen.  Und wenn kein Tag ohne eine durch Punkte auf einer Liste eingeschränkte Struktur auskommt, ist es auch wirklich kein Mysterium mehr, weshalb ich den Sommer vermisse, während draußen gerade eine Hitzewelle ist. Selbst wenn ich draußen und mitten im Sommer bin, bin ich nicht ganz da. Ich weiß, selbst wenn ich die Liste für heute besiegt habe, wartet morgen schon die nächste auf mich. Und das geht so weiter, bis ich auch den Sommer abhaken kann.

    Zu dieser Erkenntnis zu kommen ist keine Glanzleistung. Es ist offensichtlich, dass Neoliberalismus und Hustle-Culture Schattenseiten haben. Allgemeine Erkenntnisse aber auf sich selbst und das eigene Leben zu übertragen und sich einzugestehen, dass das ganze theoretische Wissen und die Kritik kein Schutz davor sind, diesem Prinzip selbst zu verfallen, ist nicht angenehm. Und was noch weniger angenehm ist, ist, dass ich mir eingestehen muss, dass ich genau mit dieser Erkenntnis meine neoliberalen Ansprüche für heute befriedigt habe. Den Punkt „Kolumne schreiben“ kann ich jetzt endlich durchstreichen. Und zumindest für heute nehme ich mir vor, mir nichts weiter vorzunehmen als in der Sonne zu liegen und mich darüber zu wundern, wie sehr Kniekehlen schwitzen können. Außerdem nehme ich mir vor, nicht daran zu denken, dass ich mir für morgen vorgenommen habe, endlich mit dem Schreiben der zweiten Hausarbeit zu beginnen. Und daran, dass ich spätestens, wenn das nächste Semester beginnt, wieder ein dreiviertel Jahr an meiner Wärmflasche kleben und den Sommer vermissen werde, will ich heute bei 36 Grad auch nicht denken.

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