Wie heißt du?
Kolumnistin Naomi über eine Frage, die ganz einfach scheint, manchmal doch schwer zu beantworten ist, und darüber, wie sie Frieden mit einem Interpunktionszeichen geschlossen hat.
Meine Eltern haben vieles richtig gemacht. Die Entscheidung über meinen Namen gehörte – der Meinung meines Teenager-Ichs nach – nicht dazu. Daran konnte auch die schöne Geschichte über den Auswahlprozess nichts ändern, die meine Mutter bei passenden Gelegenheiten immer gern erzählte: Wie sie überlegten, wie sie mich nennen sollten, ihr Überraschungskind, wie mein Vater etwas Kurzes wollte, das sich gut rufen lässt, und Lisa vorschlug, und wie das meiner Mutter zwar gefiel, aber dann doch auch zu kurz war. Also ein Doppelname, der perfekte Kompromiss: Lisa-Naomi. Und wie mein Vater, der Musiker, sagte, der Name sei wie eine Melodie: di-da-da-do-di (Diese Geschichte kann man überhaupt nicht richtig wertschätzen, wenn man ihn das nicht singen hört, aber egal, ich erzähle sie euch trotzdem.)
Ich mochte diese Geschichte zwar auch, aber sie konnte mich nicht darüber hinwegtrösten, dass der erste einfach ein wahnsinniger Allerweltsname ist und der zweite sich wunderbar verspotten lässt: „Na, Omi?!“, und so weiter, was die Jungs in meiner Grundschulklasse auch gehörig ausgereizt haben. Das führte dazu, dass ich den Namen, kaum, dass ich endlich aufs Gymnasium kam, so gut ich konnte in der Versenkung verschwinden ließ – nicht dass ihn zuvor jemand benutzt hätte. Und dann noch dieser schmachvolle Bindestrich! Alle anderen mit peinlichen Mittelnamen konnten diese wenigstens ganz mühelos unter den Teppich kehren, während meiner von jedem*jeder neuen Lehrer*in, der*die zum ersten Mal die Klassenliste durchging, unweigerlich mitsamt der Frage, wie ich den genannt werden wollen würde, wieder hervorgezogen wurde.
Irgendwann auf der Zielgeraden zum Abi muss ich angefangen haben, davon zu träumen, wie ich in irgendeiner neuen, großen, weit entfernten Stadt, in der mich keine*r kannte (Leipzig war damals noch ein beliebiger Fleck auf der Landkarte), mich nur noch mit Naomi vorstellen und ein neues Leben beginnen, ein neuer Mensch werden würde. Dann wurde Leipzig real und ich hatte den Mut nicht oder es vielleicht auch einfach vergessen.
Als ich das erste Mal auf einem Leipziger Poetry Slam auftrat, bat ich die Moderatorin, mich als Naomi anzukündigen. Es fühlte sich wahnsinnig falsch an, und noch falscher, dass die Leute mich hinter der Bühne anders nannten als darauf. Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, dass mein Zweitname wohl eine Papierleiche auf dem Pass bleiben würde, als ich das erste Mal zu einer Redaktionssitzung von luhze ging, meinen ersten Artikel übernahm und daraufhin natürlich gefragt wurde, wie ich hieße – und ohne, dass ich vorher darüber nachgedacht hätte, legte sich in diesem Moment ein Schalter um:
„Naomi“, hörte ich mich sagen.
Es wird wohl geholfen haben, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits eine andere Lisa in der Redaktion gab und ich die Verwirrungen und das viel zu häufige Umdrehen-und-dann-doch-nicht-gemeint-Sein diesmal vermeiden wollte. Es gab dann natürlich trotzdem Verwirrungen, weil meine Mailadresse beide Namen zeigt und auch, weil ich mich einmal einem neuen Redaktionsmitglied aus Versehen als Lisa vorstellte und danach am liebsten im Boden versinken wollte. Doch der erste Moment hatte gereicht, Naomi setzte sich durch, und die Einzige, die sich daran einfach nicht gewöhnen konnte, war ich.
Selbst als ich schon längst regelmäßige Gästin bei den Sitzungen geworden und in den „inneren Kreis“ der Ressortleiter*innen vorgedrungen war, nagte noch immer das Hochstapler*innensyndrom an mir. Immer nur so halb bewusst wartete ich darauf, dass jemand entdeckte, dass an diesem Namen doch etwas völlig falsch war. Dass ich doch gar nicht die war, die ich vorgab zu sein. Denn natürlich hingen an meinen beiden Namen auch verschiedene Bilder, die ich mir von mir selbst machte, vor allem zu einer Zeit, in der ich noch an klaren kontextuellen Grenzen festhielt.
Überspitzt gesagt war Lisa das kleine Mädchen, rosa, die Ruhige, Schüchterne, der man den ersten Schritt immer abnehmen muss.
Naomi dagegen die erwachsene Frau, rot, die Laute, Leuchtende, die auf Bühnen, hinter Texten und zwischen Zeilen steht und eine Verbindung zwischen den Menschen schafft mit ihrer Sprache.
Natürlich bin ich beides. Aber selbst als ich mich daran gewöhnt hatte, in bestimmten Räumen von allen Naomi genannt zu werden, und es genoss, wenn jemand sagte „Hä, Lisa? Du bist für mich voll die Naomi, Lisa geht gar nicht!“, war es mir doch oft peinlich, explizit darüber zu sprechen. Ich fürchtete mich vor der Vermischung zweier abgeschlossener Kreise oder der Frage, wie ich denn jetzt genannt werden will. Wenn ich zu einem Termin fuhr, dachte ich auf dem Fahrrad genau darüber nach, welche Menschen in welchem Kontext ich gleich treffe und wer ich dann bin.
Aber genauso wie ich bei meinem Abschied von luhze kurz Angst bekam, als ich realisierte, dass mich jetzt viel seltener Menschen Naomi nennen würden, habe ich auch irgendwann gemerkt, dass etwas abhandenkommt, wenn zu lange niemand von Lisa spricht. Vielleicht liegt letzteres nur daran, dass viele der Menschen, die mich Lisa nennen, mich eben länger kennen, nur an 18 Jahren Zeitverschiebung, die sich mit jedem Jahr, in dem ich beide Namen gleichberechtigt nebeneinander benutze, weiter einebnen werden. Aber Lisa, das fühlt sich an wie nach Hause kommen: nach dem schwäbischen Dialekt des Zugführers, der in Stuttgart die Fahrgäschte begrüßt, nach dem Geruch meines alten Zimmers und der Umarmung meines Vaters. Deshalb ist Naomi nicht unecht. Ich bin reingewachsen in diesen Namen in den letzten Jahren. Fake it ‘til you make it funktioniert anscheinend manchmal doch.
Inzwischen ist meine Namensgeschichte eine, die ich gern erzähle. Die kontextuelle Trennung ebnete sich irgendwann von allein ein, und ich habe ihr mit Freuden selbst den letzten Stoß verpasst, als ich die Gästeliste für meine letzte Geburtstagsparty zusammenstellte. Ich bin gelassener geworden. Ich habe erkannt, dass ich beides bin, und mehr als das, dass ich beide Pole in mir vereine, unter jedem Namen alles sein kann und mich auch verändern darf.
Vor allem bin ich zuhause in meiner wortlosen Mitte, dem Zentrum, das sich der sprachlichen Beschreibung entzieht, zuhause in meinem schweigenden Bindestrich.
Titelbild: Pixabay
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