Der ständige Begleiter
Nach einer zweimonatigen Weltreise denkt Kolumnistin Natalie über ihre Erfahrungen nach, die nicht immer so positiv waren wie zunächst gedacht.
Wenn sich die Wolkendecke teilt und die Sicht klar wird bis zum Erdboden, der so weit weg scheint. Das ist mein Lieblingsmoment beim Reisen in weite ferne Länder.
Die letzten Monate saß ich so oft in einem Flugzeug, dass ich gar nicht mehr zählen kann, wie viele Flüge es tatsächlich waren. Sieben Länder in zwei Monaten. Das war das Geschenk an mich selbst nach meinem Studienabschluss. Und es war ein großartiges Geschenk.
Wer immer mich auch fragt, wird von mir zu hören bekommen, dass Reisen das Beste ist, was man mit Zeit und Geld anfangen kann. In meinem Studium habe ich viel Wichtiges gelernt, aber Reisen bildet auf eine ganz andere Weise.
Reisen zeigt, was Fotos und Bücher nur im Bruchteil erfassen können. Einzutauchen in ein Land, die Menschen kennenzulernen, Orte zu sehen, zu erfahren, zu schmecken – das ist etwas, was Worte kaum beschreiben können. Aber das, was mir ebenfalls am meisten am Reisen gefällt, sind die Erfahrungen, die ich über mich selbst mache.
Den Großteil meiner Reise war ich allein und so viele, die ich unterwegs traf, waren sowohl überrascht als auch schockiert über diese Offenbarung. „Was, allein? Das könnte ich nicht“, sagten sie und die daheimgebliebenen Freunde. Ich fragte dagegen oft zurück: „Ja, warum kannst du denn nicht?“
Kauf ein Ticket, setz dich in den Flieger oder Zug und fahr los. Es ist eigentlich ganz einfach. Ich bin mittlerweile erprobt, was solche Reisen angeht. Angst habe ich kaum noch welche. Dank Google Maps, guter Recherche im Vorfeld und dem Mut Leute im Notfall nach dem Weg zu fragen, bin ich gut ausgestattet. Es gibt nichts, was man fürchten muss. Irgendwie kommt man immer an.
Aber ich will nicht zu sehr angeben, natürlich läuft auch bei mir nicht immer alles glatt. Was enorm hilft, ist eine gute Selbsteinschätzung. Du selbst kennst dich am besten, du weißt, was dein Körper leisten kann, ob du es schaffst lange allein zu sein oder ob du dir zu viel aufbürdest, wenn du in jeder Stadt zig Sehenswürdigkeiten abklapperst. Natürlich muss man sich auch auf jedes Land einzeln neu einstellen. Meine Reise führte mich von Thailand, Malaysia und Singapur über Bali nach Australien, Neuseeland und mit einem kurzen Abstecher über die Vereinigten Arabischen Emirate.
Ich habe auf meiner Reise auch wieder viel über mich gelernt. Ich bin an einigen Herausforderungen gewachsen. Aber auch, wenn die Instagramfotos nahezu perfekt sind, gab es auch dunkle Augenblicke.
Das zweite Land, das ich nach dem Start in Thailand bereiste, war Malaysia. Ich wusste kaum etwas über das Land, doch leider habe ich inzwischen entschieden, dass ich nie wieder dorthin reisen werde. Für mich ist das eher ungewöhnlich, dass ich ein Land derartig strikt aus weiteren Reiseplänen ausschließe, doch das hat seine Gründe.
Malaysia war wie all die anderen Länder wunderschön auf seine eigene Weise. Ich habe viel Schönes dort gesehen und die Stadt Penang war mit ihrer interessanten Immigrationskultur sogar eines meiner Highlights. Was mich nachhaltig geprägt hat, war der Aufenthalt in Kuala Lumpur.
Eine große Stadt mit Hochhäusern, aber auch recht ärmlichen Straßen und Läden. Die Stadt hätte interessant auf mich wirken können, wären nicht die Menschen gewesen, die ich getroffen habe, die meine Erfahrung dort leider so ins Negative verzerrten.
Meine Reisegruppe, mit der ich Asien bereiste, blieb nur zwei Tage in Kuala Lumpur, aber als wir abreisten, war ich ehrlich erleichtert. Immer, wenn wir raus gingen, waren wir in einer großen gemischten Gruppe unterwegs, was nie ein Problem war. Doch an einem Tag wollte ich allein und auf eigene Faust nach einem Supermarkt suchen.
Ich war vielleicht zehn Minuten unterwegs und kehrte unverrichteter Dinge ins Hotel zurück mit einem beklommenen Gefühl. Die ganze Zeit, während ich durch die Straßen Kuala Lumpurs lief, wurde ich angestarrt, mit Blicken verfolgt, ja, regelrecht ausgezogen. Ich habe nicht eine einzige Frau auf der Straße gesehen. Nur Männer, die in den Straßen saßen oder liefen und mich begafften, als wäre ich ein fremdes Wesen.
Und irgendwie war ich das auch für sie. Meine Haut war trotz der Sonne hell, meine Haare flammend rot. An einem anderen Tag in Chinatown wurde ich von einem wildfremden Mann gefragt, ob er ein Selfie mit mir machen könnte. Als ich verneinte, versuchte er es gegen meinen Willen.
Wir Touristen wurden immer wieder ungefragt fotografiert in verschiedenen Ländern, nicht nur in Malaysia. Andere Frauen meiner Gruppe berichteten mir sogar, dass sie minutenlang verfolgt wurden, als sie unterwegs waren.
Natürlich teilte ich meine Erfahrungen mit der Gruppe. Eine Frau schaute mich dabei an, als wäre ich verrückt geworden. Es war klar, was sie sagen wollte. Stell dich nicht so an. Etwas, was mich im Nachhinein sehr ärgerte.
Ich sprach auch mit mehreren Männern aus unserer Gruppe. Natürlich hatten sie derartiges nicht zu berichten. Sie wirkten schockiert, dass Menschen, die dasselbe Geschlecht wie sie teilen, zu so etwas im Stande sind. Die meisten Frauen unserer Gruppe waren jedoch nicht schockiert. Wir tauschten diesen Blick untereinander. Diesen „ich weiß genau, wovon du sprichst, hab ich auch schon erlebt“ – Blick.
Ja, Reisen bildet, aber es zeigt dir eben nicht nur die schönen Seiten des Lebens. Es zeigt dir, dass wir Menschen in ein und derselben Welt leben, aber trotzdem ganz verschieden leben können. Du lernst, dass das, was du für selbstverständlich hältst, auf der anderen Seite der Welt völlig anders aufgefasst und gelebt wird.
Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie sich das Verständnis von Frauen mit der Zeit verändert hat. Vor zwanzig Jahren schien es noch so, als würde man eher gesagt bekommen: So ist das Leben halt, akzeptier es. Zieh das nächste Mal halt keinen Rock an. Verhalte dich nicht so auffällig. Jetzt ist vieles anders, aber trotzdem noch lange nicht so, wie es sein sollte.
Egal, wo ich auf der Welt auch war, wenn ich mich mit einem Mädchen gut verstand, wir gingen aus, verbrachten einen schönen Abend zusammen und trennten uns dann wieder, zum Schluss sagten wir immer: „Schreib mir, wenn du angekommen bist.“
Es ist eine so simple Sache, natürlich auch ein Zeichen von Freundlichkeit, sich um den anderen zu sorgen, aber dahinter steckt eine Notwendigkeit, die es eigentlich nicht geben sollte. Ich kenne keine Männer, die das untereinander ebenso praktizieren, für Frauen ist es aber mittlerweile etabliert.
Wenn eine Frau also zu mir sagt: „Ich könnte nicht allein verreisen“, dann frage ich mich oft, ob es auch aus diesen Gründen für sie unmöglich scheint. Natürlich möchte ich mit gutem Beispiel voran gehen. Ich möchte allen Mädchen und Frauen dieser Welt zuschreien: Tut, was ihr wollt und lasst euch nicht von Angst beherrschen!
Aber es wäre naiv von mir, zu ignorieren, dass es Orte auf dieser Welt gibt, bei denen man als Frau vorsichtiger sein sollte als an anderen. Ich könnte verschweigen, was ich in Malaysia, in Dubai, in Bali und in einem kleinen Ort in Australien für Erfahrungen gemacht habe, wie sich das angefühlt hat, aber das wäre nicht der richtige Weg. Ich teile meine Erlebnisse mit jedem, der sich nach meiner Reise erkundigt. Ich beschönige nichts.
Es wäre dumm zu behaupten, ich hätte manchmal nicht auch zweimal überlegt, ob ich in der Dunkelheit noch raus gehen sollte. Ob ich diesen Rock wirklich anziehen sollte. Diese Gedanken, die uns antrainiert werden von Müttern, Großmüttern, Schwestern und Freundinnen – sie lassen sich irgendwann kaum noch abschalten. Ständig kontrolliert man sich selbst, ob man an alles gedacht hat oder ob man mit seiner Sorglosigkeit gerade das Schicksal herausfordert.
Natürlich kenne ich diese Gedanken auch von zu Hause. Selbst in Deutschland, in der eigenen Heimatstadt, die man kennt wie keine andere, kann es Momente geben, in denen man sie wieder im Kopf hat. Aber ich muss auch zugeben, dass die Gedanken und Ängste auf Reisen lauter sind. Ich versuche mich an das jeweilige Land anzupassen, keine Regeln zu brechen und mir die Wege, die ich einschlage, genau zu merken. Die Angst bleibt, denn ich habe in einem neuen Land, in einer neuen Stadt, keine Freunde, die ich mal schnell anrufen kann und die zur Stelle sind. Allein zu sein, ja, das ist mutig. Aber es kann auch so schön sein, ein Gefühl der Freiheit, der eigenen Entscheidung, dass ich mir nicht nehmen lassen möchte.
Ich habe mal einen Spruch gelesen, den ich sehr treffend finde. „Erzieht eure Töchter nicht dazu, vorsichtig zu sein, erzieht eure Söhne zu guten respektvollen Menschen.“ So sollte es sein, aber auch wenn die Welt im Begriff ist sich zu ändern, so ist noch lange nicht alles so, wie es sein sollte. Ich kann leider nicht sagen, dass wir die Angst vergessen sollten. Ich weiß nicht, ob meine Angst jemals ganz verschwinden wird. Doch ich versuche sie zurückzudrängen und mich nicht von ihr einkerkern zu lassen.
Ich werde immer wieder allein meine Koffer packen und in ferne Länder reisen. Ich werde allein die Dschungel und Straßen dieser Welt durchstreifen. Ich werde immer hoffen, dass mir nichts passiert. Dass es nur bei Blicken und Rufen bleibt. Ich hoffe, dass ich andere Frauen dazu inspirieren kann, mutig zu sein und auch allein zu reisen. Und dass wir die Angst als ständigen Begleiter irgendwann abschütteln können.
Fotos: Natalie Stolle
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