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    „Lasst uns täglich fest entschlossen ,Ja, ich will!‘ zum Leben sagen – bis der Tod uns scheidet.“, fordert luhze-Autor Jonas. Noch Zweifelnden empfiehlt er „Über die Liebe zum Leben“ von Erich Fromm.

    Ein Graffiti am Straßenrand konfrontierte mich erstmals mit den Ideen Erich Fromms. Ich war gerade 16 oder 17 Jahre alt, habe erst vor kurzem beschlossen, dass Bücher nicht grundsätzlich doof sind, und befand mich mit meiner Mutter auf dem Weg zu Fressnapf. „Haben oder sein?“ stand dort an eine Lärmschutzwand gesprüht – riesengroß, rot mit schwarzer Outline. Meine Neugier war geweckt – also googelte ich und stieß schnell auf Erich Fromms Klassiker „Haben oder sein?“ aus dem Jahr 1976, welcher meine seelische Entwicklung so maßgeblich beeinflusst hat, wie wenige andere Bücher. 

    Erich Fromm, geboren 1900 in Frankfurt am Main, gestorben 1980 in der Schweiz, war ein deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und – philosoph. Neben „Haben oder Sein?“ ist „Die Kunst des Liebens“ eines seiner einflussreichsten Werke. Einige Gedankengänge und Konzepte dieser Hauptwerke finden sich auch in „Über die Liebe zum Leben“ wieder. 

    luhze-Autor Jonas schmunzelt über Fromms Seitenhiebe gegen Sigmund Freud. Foto: privat.

    Das Buch ist eine Sammlung von Rundfunkbeiträgen und Interviews, in denen Fromm sich mit grundsätzlichen und scheinbar nebensächlichen Angelegenheiten menschlichen (Zusammen-) Lebens auseinandersetzt. So ergründet er beispielsweise die Ursprünge menschlicher Aggression, fragt nach den Auswirkungen materiellen Überflusses auf eine Gesellschaft und deren Individuen und setzt sich kritisch mit Theorien Sigmund Freuds auseinander. 

    In seinen Analysen erleben wir Fromm immer wieder als einen Idealisten. Er ist davon überzeugt, dass Menschen sich von „irrationalen Leidenschaften“ wie Habgier befreien können (Haben oder sein?), und er skizziert Wege zur gesellschaftlichen und persönlichen Befreiung. Erich Fromm bezeichnet sich selbst als Sozialisten und plädiert für ein humanistisches und demokratisches sozialistisches Gesellschaftssystem. Dabei distanziert er sich an mehreren Stellen von der politischen Praxis der zu seiner Zeit existierenden sozialistischen Staaten.  

    Seine systemkritische Grundhaltung spiegelt sich auch in Fromms Ansichten über die Psychoanalyse wider, welche im späten 19. Jahrhundert von Freud begründet wurde. So schreibt er beispielsweise, dass die „Psychoanalyse wieder kritische Theorie werden“ müsse und meint damit, dass die psychologische Zunft vermehrt gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, soziale Ungleichheiten und deren Auswirkungen auf Individuen in ihren Theorien berücksichtigen sollte. Die Erklärung von seelischem Leid kann eben nicht beim Ödipuskomplex oder dem Penisneid aufhören, sondern bedarf der Analyse gesellschaftlicher Mechanismen der Entfremdung und Ausbeutung. Auf diese Weise bereichert Fromm die vom Individualismus geprägte Selbsthilfe- und Selbstfindungskultur um gesellschaftliche Perspektiven und schafft Klassenbewusstsein. 

    Der Sprachstil ist trotz der schweren Themen sehr zugänglich und bedarf keines weiteren Vorwissens. Deshalb eignet sich „Über die Liebe zum Leben“ hervorragend als Abend- oder Badewannenlektüre, oder zum Lesen in der Straßenbahn. Im Gegensatz zu seinen sehr populären Hauptwerken, erfahren wir in diesem Buch viel über Fromms persönlichen Werdegang als Denker und Wissenschaftler. Für mich als Fromm-Fan war dieses Buch deshalb ein besonderes Vergnügen. Auch Menschen, die sich bislang noch nicht mit Fromm auseinandergesetzt haben, sei dieses Buch empfohlen, denn es wirkt aufheiternd, lebensbejahend und dient als Kompass für eine kollektive Neuorientierung. 

     

    Grafik: Sara Wolkers

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